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Der Schatz von Franchard

Titel: Der Schatz von Franchard
Autoren: Robert Louis Stevenson
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länger aushalten.
    Ja, in diesem besonderen Winter, nachdem der Schatz verlorengegangen war, quälte die Desprez eine ganz andere und ihrem Herzen weit näherliegende Sorge. Jean-Marie war ganz entschieden nicht mehr er selbst. Er hatte Anfälle hektischen Tätigkeitsdranges, während derer er ganz besonders zu gefallen sich bemühte, mehr und rascher redete als gewöhnlich und seine Studien doppelt fleißig betrieb. Diese wurden jedoch von Stunden der Melancholie und brütenden Schweigens abgelöst, in denen der Junge fast unleidlich war. »Schweigen,« moralisierte der Doktor, »du siehst, was das Schweigen für Folgen hat, Anastasie. Hätte der Junge sein Herz ausgeschüttet, wie es sich gehört, die kleine Enttäuschung über den Schatz, das bißchen Ärger über Casimirs Unhöflichkeit wäre längst vergessen. Unter diesen Umständen aber zehrt es an ihm wie eine Krankheit. Er magert ab, sein Appetit ist unregelmäßig und im großen und ganzen schwächer. Ich halte ihn unter strenger Zucht, verwende die kräftigsten Tonika, beides umsonst.«
    »Meinst du nicht, daß du ihm zuviel eingibst?« fragte schaudernd Anastasie.
    »Eingibst?« rief der Doktor. »Ich eingeben? Anastasie, ich glaube, du bist verrückt!«
    Die Zeit verstrich, und des Knaben Gesundheit wurde langsam schlechter. Der Doktor schrieb es dem Wetter zu, das kalt und stürmisch war. Er ließ den Kollegen aus Bourron kommen, faßte eine Vorliebe für ihn, verhimmelte sein Können und befand sich bald selbst in Behandlung – für welches Leiden, war kaum ersichtlich. Er und Jean-Marie hatten jeder zu verschiedenen Tageszeiten verschiedene Medizinen einzunehmen. Der Doktor pflegte, die Uhr in der Hand, auf den genauen Moment zu warten. »Es geht nichts über die Regelmäßigkeit,« sagte er dann wohl, teilte die Dosen ab und pries die Tugenden der Tränklein; und wenn dem Jungen anscheinend auch nicht besser davon wurde, so war dem Doktor doch keineswegs schlechter.
    Am fünften November ging es dem Jungen besonders schlecht. Es war unfreundliches, böiges Wetter. Ungeheure, zerrissene Wolkenmassen segelten eilig den Himmel entlang; flüchtige Sonnenstrahlen huschten über das Dorf hin, gefolgt von Dunkelheiten und einem weißen, fliegenden Regen. Mitunter erhob der Wind brüllend seine Stimme. Die Bäume an den Wiesenrainen peitschten sich gegenseitig, und die Blätter zerstoben wie Staub.
    Bei dem Wetter und des Jungen Krankheit war der Doktor ganz in seinem Element, galt es doch eine Theorie zu beweisen. Da saß er, die Taschenuhr in der Hand und das Barometer vor sieh und wartete dieWindausbrüche ab, um ihre Wirkung auf den menschlichen Puls zu notieren. »Dem wahren Philosophen,« bemerkte er entzückt, »wird jede Erscheinung in der Natur zum Spiele.« Ein Brief wurde ihm gebracht; da aber seine Ankunft mit dem Eintreffen eines Windstoßes zusammenfiel, stopfte er ihn nur in die Tasche und widmete sich Jean-Marie, und im nächsten Augenblick zählten beide um die Wette ihren Puls.
    Bei Anbruch der Nacht steigerte der Wind sich zu einem Orkan. Er belagerte das Dörfchen scheinbar von allen Seiten, wie mit Kanonen. Das Haus zitterte und krachte; glühende Kohlen wurden über die Dielen gefegt. Das Toben und Grauen der Nacht hielt die Menschen noch lange wach; lauschend saßen sie mit bleichen Gesichtern da.
    Es war zwölf Uhr, als die Familie Desprez sich niederlegte. Um halb zwei Uhr, als der Sturm seinen Höhepunkt schon überschritten hatte, erwachte der Doktor aus einem unruhigen Schlummer und setzte sich aufrecht. Noch immer klang ein bestimmtes Geräusch in seinen Ohren, ob es jedoch aus dieser Welt oder aus der Welt der Träume stammte, vermochte er nicht zu sagen. Ein weiterer Windstoß folgte. Er wurde von einem schwindelerregenden Schwanken des ganzen Hauses begleitet, und in der darauffolgenden Stille konnte Desprez die Dachziegel wasserfallähnlich in den Heuboden über seinem Kopfe hinabstürzen hören. Er riß Anastasie buchstäblich aus dem Bett.
    »Lauf,« schrie er, ihr einige Kleidungsstücke in die Hand drückend; »das Haus stürzt zusammen! In den Garten!«
    Sie ließ es sich nicht zweimal sagen, im Nu war sie die Treppe hinunter. Niemals hatte sie sich einer solchen Beweglichkeit für fähig gehalten. Inzwischen hatte der Doktor mit der Schnelligkeit einer Pantomime und ohne auf zerschundene Knie zu achten, Jean-Marie herausgetrommelt, Aline ihrem jungfräulichen Schlummer entrissen, sie bei der Hand genommen, und war mit
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