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Der Schatten von nebenan - Roman

Der Schatten von nebenan - Roman

Titel: Der Schatten von nebenan - Roman
Autoren: Michael Saur
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der Zimmernummer klebte ein gedrucktes Stück Papier an der Wand mit der Aufschrift »Brandabteilung«. Im Nebenzimmer sahen sich zwei junge Krankenschwestern eine Schwarz-Weiß-Stummfilmkomödie an, die in einem uralten Fernseher lief. Als ich ohne zu klopfen ins Zimmer trat, wurde mir für einen Moment lang übel. Das Fenster war geschlossen, und die Luft stand schwer im Zimmer. Claire hob ihren Kopf, aber nicht ihre bandagierten Hände, die nachlässig eingewickelt aussahen. Ein dünnes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie mich sah, aber ihr Blick blieb in weite Ferne gerichtet. Ich konnte keine Verletzungen feststellen. Und doch schien sie verändert, als ob sich in ihr ein Loch geöffnet und alle Energie aus ihr aufgesaugt hätte. Ich beugte mich zu ihr hinunter und küsste sie auf den Mund. Claire erwiderte meinen Kuss schwach, war jedoch zu langsam und küsste in die Luft. »Es tut mir Leid, Galvin«, sagte sie, »sie sind ständig um mich herum. Sie kommen mit endlosen Fragen und Tests. Sie nennen mich ihr«, und hier zögerte sie kurz, »ihr Wunder von Manhattan.« Darüber versuchte ich zu lächeln, und Claire zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln, aber eine Sekunde später sah sie ängstlich zur Tür. Plötzlich zitterte ihr Kinn, und sie war den Tränen nahe. Abwesend pulte sie an den Bandagen an ihren Fingern und Händen herum. Es war gerade ein paar Stunden her, dass ein unglaublicher Stromschlag in sie eingedrungen, eine tödliche Menge Energie in ihren Körper geflossen und durch ihn hindurch und wieder hinausgelaufen war, Gott weiß wohin, und wie ein Wunder hatte sie keinerlei Spuren hinterlassen. Ich wusste nicht, ob Claire bewusstlos gewesen war. Ich wusste nicht, wer sich gleich nach dem Unfall um sie gekümmert hatte. Ich wusste nicht, ob es zur selben Zeit andere Unfälle gleicher Art gegeben hatte. Midtowns Fifth Avenue am Morgen war eine geschäftige Meile, und es war vorstellbar, dass sich nicht nur eine Person auf der großen Metallabdeckung befunden hatte, die einen der dunklen Abgründe der Stadt bedeckte. Und immer noch mochte ich nicht begreifen, wie so eine dieser tonnenschweren Metallplatten, die von Kränen über die Baulöcher gehievt werden, und die manchmal bis zum Bürgersteig reichen und oft über Jahre hinweg liegen bleiben, vor Elektrizität brummen konnte. Andererseits konnte ich mir ohne weiteres vorstellen, dass es in der gewundenen und komplizierten Mechanik unter der Stadtoberfläche zu solch wundersamen Missgeschicken kommen konnte. Claire wiederholte mit schwacher Stimme, was sie mir am Telefon erzählt hatte. Wie sie vom Flughafen in der Stadt ankam, wie sie losgegangen war, um Kaffee für sich und ihre Chefin Erika Edelweiss zu holen. Sie wiederholte, wie ein Con-Edison-Arbeiter sie auf die andere Seite der Straße geschickt hatte, und wie sie mit dem kleinen Papiertablett, das sie in ihren Händen balancierte, die Straße überquert hatte und dann auf die Metallplatte auf dem Bürgersteig an der Ecke Fifth Avenue und 51st Street getreten war. Das Nächste, an das sie sich erinnern konnte, war, dass sie in einem Krankenwagen in das St. Vincent’s gebracht wurde, weil nahe liegende Krankenhäuser wie das Roosevelt und NYU Medical Center aufgrund eines großen Feuers, das in einer illegalen Keller-Disco ein paar Tage zuvor ausgebrochen war, ihre Abteilungen für Verbrennungen bis aufs letzte Bett gefüllt hatten.
    Als Claire zu Ende erzählt hatte, blickte sie mich leer an.
    »Aber warum behält man dich im Krankenhaus, wenn es dir gut geht?«, fragte ich. Da rückte sie sich zurecht und blickte mich erneut an. »Sie wollen nur verstehen, was genau geschehen ist, Galvin«, sagte sie, »sie wollen begreifen, warum alles so ist und nicht anders.« Sie zuckte die Achseln, der Kopf senkte sich, und sie sah hinunter auf ihre Hände. Dann verlor ihr Blick sich wieder in der Ferne. Die normalerweise sanften Linien auf ihrer Stirn schienen tiefer als sonst.
    »Du sagtest, es sind nur ein paar Tage, bis sie dich gehen lassen werden?«, fragte ich noch einmal.
    »Ein Arzt meinte so was in der Art, ja, ja, ein paar Tage«, wiederholte Claire.
    Sie sah auf die Tasche, die ich auf meinem Schoß hatte. Ich nahm ihre Hand. Aber sie zog sie vorsichtig zurück. Dann rieb sie ihre bandagierten Handflächen an der Schiene des Bettes. Ich wünschte, ich hätte ihr helfen, etwas für sie tun können und sie aus diesem Loch ziehen, sie davontragen in ein altes, wenn auch vages
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