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Der Schatten des Schwans

Der Schatten des Schwans

Titel: Der Schatten des Schwans
Autoren: Ulrich Ritzel
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können. Aber was machen wir jetzt bloß mit dem Verrückten da oben?«
    Steinbronner musste sehr ratlos sein, dachte Berndorf, wenn er diesen scheinbar kollegialen Ton anschlug. Dann überlegte er, ob sie Thalmann anbieten sollten, seinen Fall vor laufender Kamera einigen kompetenten und unabhängigen Pharmakologen – falls es so etwas gab – vorzutragen. Aber das würde dauern.
    »Lassen Sie uns einen Versuch machen, Chef«, sagte Tamar. Sie nahm das Telefon und ließ sich von Berndorf die Durchwahl der Türmerstube geben. Dann wählte sie und gab den Hörer Hannah, die blass und gerade aufgerichtet neben ihr saß. Tamar konnte hören, wie Thalmann sich meldete.
    »Hier ist Hannah«, sagte die zierliche dunkle Frau. »Ich komme jetzt nach oben. Du lässt mich herein. Und dann lässt du die junge Frau gehen. Sie hat dir nichts getan.« Thalmann schwieg.
    »Ich komme jetzt. Wenn du jetzt nicht mit mir redest, wird es nie ein Gespräch mehr zwischen uns geben.«
     
    Steinbronner machte ein bedenkliches Gesicht: »Wir können da keine Frau hochlassen. Nicht zu diesem Menschen.«
    »Dieser Mensch ist mein Vater«, sagte Hannah einfach.
    »Ich denke, sie ist wirklich die Einzige, die ihn zur Vernunft bringen kann«, sagte Berndorf.
    Wenig später begleiteten Tamar und Berndorf die junge Frau zum Münsterportal und hinauf zum Turm. Nur mit Mühe kamen sie auf der Wendeltreppe an den Beamten des
Sondereinsatzkommandos vorbei, die überall mit ihren Schutzwesten und Maschinenwaffen postiert waren.
    Berndorf hasste den Aufstieg, er war nicht schwindelfrei und verabscheute die Blickscharten im Mauerwerk, durch die man tief auf den Münsterplatz sah. Vor dem letzten Aufgang sagte Hannah, er solle zurückbleiben. Nur Tamar solle, wenn sie es wolle, mit ihr gehen.
    Berndorf lehnte sich an das Mauerwerk. Über sich hörte er, wie ein Eisengitter quietschend aufgestoßen wurde.
    Zeit verging. Aber sie verging entsetzlich langsam. Unten auf dem Münsterplatz sah Berndorf die Absperrungen und grau dahinter Menschen. Davor spielzeugklein die Fahrzeuge der Polizei und den Übertragungswagen des Fernsehens. Plötzlich überfiel ihn schmerzhaft die Sehnsucht nach einer Zigarette, zum ersten Mal seit vielen Jahren.
    Später, viel später kamen von oben rasche Schritte. Tamar führte am Arm eine groß gewachsene und schlanke blonde Frau. Sie zitterte nicht, aber Berndorf sah, dass sie jeden Augenblick zusammenbrechen konnte. Er ging den beiden Frauen voran, um die Polizisten zur Seite zu winken und Nike Schülin aufzufangen, wenn sie noch auf der Wendeltreppe zusammenklappen würde.
    »Wie haben Sie das geschafft?«, sagte er unten zu Tamar.
    »Das hab’ nicht ich geschafft«, antwortete sie. »Hannah hat es fertig gebracht. Ich weiß nicht wie. Sie hat gebeten, dass die Polizei nichts unternimmt. Bis sie mit ihrem Vater herunterkommt.«

Freitag, 20. Februar, 23 Uhr
    »Desarts berühmte Bonbons!«, sagte Rechtsanwalt Eisholm. »Aber danke. Ich muss auf meinen Zucker achten.« Eisholm war ein großer grauhaariger Mann mit listigen Krähenaugen. Er war so bekannt und so teuer, dass ihn sich nur leisten durfte, wer wirklich Geld hatte. Oder jemand, der seine Geschichte an die Magazine verkaufen konnte.
    Eisholm war noch am Abend aus München gekommen, und nun saßen sie zu dritt an Desarts Besprechungstisch. Der Staatsanwalt, Berndorf und der Anwalt.
    Eigentlich hatte Berndorf keine Lust mehr. Er hatte seinen Job getan. Vor drei oder vier Stunden hatte ihn Thalmann in der Einsatzleitung angerufen und ihn gebeten, ihn und seine Tochter am oberen Aufgang abzuholen.
    »Damit keiner von Ihren Rambos das Schießen anfängt«, hatte er noch gesagt.
    Und Berndorf hatte ein zweites Mal den Weg über die Wendeltreppe nehmen müssen. Er hasste sie wirklich. Oben hatte ihn Hannah begrüßt und ihm ein zusammengeklapptes Rasiermesser übergeben.
    Dann war Thalmann den Aufgang heruntergekommen, nichts weiter als ein unauffälliger müder Mann, der darum bat, erst morgen vernommen zu werden. Berndorf war es recht. Man sollte Hannah helfen, ihm einen Anwalt zu besorgen.
Einen, der seine Arbeit verstand und der auch zur Sprache bringen würde, was die Tabletten mit Thalmann gemacht hatten. Tamar würde sich um einen Anwalt kümmern.
    Viel würde es nicht helfen. Das Tribunal gegen die Pharmaindustrie würde es nicht geben. Kein Gericht würde sich darauf einlassen.
    Gerne hätte Berndorf gewusst, wie Hannah ihren Vater zum Aufgeben überredet hatte.
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