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Der Samurai von Savannah

Der Samurai von Savannah

Titel: Der Samurai von Savannah
Autoren: T. Coraghessan Boyle
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Mutter Septima, die inzwischen in den Siebzigern war und deren rasselndes Schnarchen aus dem großen Schlafzimmer hinter dem Frühstücksraum herübertönte, beim Tod ihres Gatten vor etwa zwanzig Jahren die Stiftung für Thanatopsis House ins Leben gerufen hatte, war sie dem Beispiel von anderen, bereits etablierten Künstlerkolonien wie Yaddo, MacDowell und Cummington gefolgt. Eine der Traditionen, die sie von dort übernommen hatte – und an der sie besonders festhielt –, war jene des Stillen Tisches. Zum Frühstück, so glaubte man, brauchten Künstler eines bestimmten Naturells absolute und meditative Stille, unterbrochen allenfalls vom diskreten Klappern von Kaffeelöffeln gegen die Ränder von Untertassen – um so einen gedeihlichen Übergang vom Reich der Träume in jenen exaltierten Zustand zu vollziehen, in dem der schwere Stoff ästhetischer Reaktionsprozesse an die Oberfläche steigt. Andere wiederum benötigten genau das Gegenteil – Geselligkeit, Lärm, nervtötenden Klatsch, lahme Witze und einen Hauch des morgendlich sauren Mundgeruchs ihrer Künstlerkollegen –, um Hirne zu besänftigen, die fiebrige Träume von Größenwahn, Eroberungen und der völligen Vernichtung ihrer Feinde heimgesucht hatten. Für sie hatte Septima den Geselligen Tisch eingerichtet, in einem zweiten Zimmer, das von dem ersten durch einen getäfelten Korridor und zwei Schwingtüren aus dunklem, schwerem Eichenholz abgetrennt war.
    Selbst an diesem Morgen, als das dräuende Gewitter sich in ihr aufbaute, als sie sich leicht, beinahe schwerelos fühlte, schwindlig und ohne jeden Grund aufgeregt, entschied sich Ruth für den Stillen Tisch. Sie war nun seit zwei Wochen in der Kolonie – vierzehnmal war die Sonne aufgegangen –, und in diesem Zeitraum hatte sie noch nie, keinen Augenblick lang, daran gedacht, sich an den anderen Tisch zu setzen. Bis auf Irving Thalamus, dessen Markenzeichen – urban-jüdische Lebensangst – sich gewissermaßen aus dem Chaos speiste, wählten alle Künstler von Rang, die ernsthaften also, den Stillen Tisch. Laura Grobian saß hier und Peter Anserine und die gefeierte Punk-Bildhauerin mit den tiefliegenden Augen und einer so bleichen Haut, dass sie aussah wie eine Drei-Tage-Leiche. Ruth genoss es einfach. Sie tat, als läse sie die Zeitung aus Savannah – die stets mit der Nachmittagsfähre kam und daher immer schon einen Tag alt war –, während sie Laura Grobian musterte, die ihr kaltes Müsligericht löffelte; sie betrachtete die eingefallenen Wangen, den rastlosen Blick ihrer Augen – diesen berühmten rastlosen Blick – und die Spuren der endlosen Stunden der vergangenen Nacht. Oder sie beobachtete Peter Anserine, der seit Kurzem geschieden war, eine lange Nase mit großen Nasenlöchern hatte und ständig leise schnaufte und hüstelte, während er beim Essen las – das Buch war immer aus Europa, immer im Original, und schien zu ihm zu gehören wie eine Art Auswuchs. Außerdem wusste sie immer, wer mit wem am Geselligen Tisch frühstückte, weil alle durch das Stille Zimmer gehen mussten. Ruth sah zu und brütete und plante, und wenn es ihr zu viel wurde, wenn niemand mehr am Tisch saß und sie es nicht mehr länger hinausschieben konnte, erhob sie sich von ihrem Stuhl und ging die Viertelmeile bis zu ihrem Studio im Wald zu Fuß. Saxby schlief immer bis zwölf.
    Es hatte noch nicht zu regnen begonnen, als Ruth ihre Sachen einsammelte – die Mappe mit ihren Notizbüchern, den Pfefferminzbonbons, ihrer Puderdose, der Haarbürste und einem der dicken Kitschromane, die sie heimlich verschlang –, sich die alte Zeitung gefaltet unter den Arm schob, einen Regenschirm aus dem Ständer nahm und zur Tür hinausstürmte. Dies war ihr der liebste Augenblick des Tages. Der Weg, in einer längst vergangenen Ära mit Steinplatten gepflastert und mit Narzissen und Geranien bepflanzt, führte sie durch einen Hain mit Sumpfeichen und Kiefern und so dicht am Morast vorbei, dass sie ihn riechen konnte. Zwar stand die Schinderei des Schriftstellerns bevor, aber der Geruch der Brackwasserzone und des offenen Ozeans, der das Schlammgelände zweimal täglich überflutete, weckte die Erinnerung an ihre Kindheit in Santa Monica – ihre schlichte, unbekümmerte, sorgenfreie Kindheit, noch unbelastet von der Gier nach Ruhm (und deren unerfreulicher Begleiterscheinung, der Arbeit), die mit ihrem sechzehnten Lebensjahr eingesetzt hatte. Und obwohl zu dieser Jahreszeit Hitze und Feuchtigkeit unbarmherzig
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