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Der Ruf Der Walkueren

Der Ruf Der Walkueren

Titel: Der Ruf Der Walkueren
Autoren: Gunnar Kunz
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musste, waren die Blicke, die Rodinger und seine Frau miteinander zu teilen pflegten, Blicke der Zuneigung. Gislher versuchte sich vorzustellen, wie Dietlind und er sich auf diese Weise ansahen, doch es gelang ihm nicht. Stattdessen erblickte er Gudelindes Gesicht, wie es aussehen würde, wenn sie vom Tod ihres Mannes erfuhr. Und Dietlind? Sie würde ihn hassen, oh ja! Gislher hatte gesehen, wie sehr sie an ihrem Vater hing. Wieder griff er zum Amulett. Sie hatte es ihm geschenkt, um ihn zu schützen, doch gewiss nicht, damit er ihrem Vater in der Schlacht überlegen war! Ein gequälter Schluchzer entrang sich seiner Kehle. Gislher wälzte sich herum und barg sein Gesicht im Schoß der Erde.
     
    Ansgar konnte nicht schlafen, und daran war Gernholt schuld, der neben ihm lag und um sich schlug. Da Gunters Bruder keine Kampfverletzung davongetragen hatte, musste sein Zustand von bösen Geistern hervorgerufen worden sein. Man brauchte ja nur hinzusehen, um zu erkennen, wie ein Dämon den Bewusstlosen durchschüttelte.
    Zähneklappernd lag Gernholt auf einem Lager aus den Umhängen gefallener Krieger, von Fieber und Schüttelfrost überwältigt. Sein Atem rasselte, die Brust schmerzte bei jedem Atemzug. Von Zeit zu Zeit murmelte er unverständliche Worte oder stieß Angstlaute aus.
    Das Wasser des Mimirsbrunnens war schlammig und roch faulig, die Zweige der großen Eibe waren kahl. An den Wurzeln Yggdrasils fraßen die Würmer, Millionen und Abermillionen von ihnen, und zerstörten den Weltenbaum von innen heraus. Gernholt wollte eine Warnung rufen, aber sein Mund war wie zugeschnürt.
    Dann entdeckte er den Fahlen. Er war an einen Felsen gekettet mit einer Fessel, die nur Schwarzalbenzauber hervorgebracht haben konnte, einer Fessel aus dem Geräusch eines Katzentritts, der Wurzel eines Berges, dem Speichel eines Vogels und dem Atem eines Fisches. Doch was niemand zu bemerken schien, Gernholt sah es: Der als unzerstörbar geltende Strick dehnte sich bis zum Anschlag, je stärker der graue Wolf daran zerrte, und musste jeden Augenblick reißen.
    Endlich gelang es Gernholt, einen Warnschrei auszustoßen, doch niemand hörte ihn. Selbst Heimdall, der Wächter der Himmelsbrücke, der weniger Schlaf brauchte als ein Vogel und hundert Tagesreisen weit sah, gleichgültig ob Tag oder Nacht herrschte, Heimdall, der das Gras auf der Erde und die Wolle auf den Schafen wachsen hörte, nicht einmal er wurde aufmerksam. Dabei stand die Brücke der Asen bereits in Flammen!
    Und jetzt, ja, jetzt, brach das Ende los! Von Fäulnis ausgehöhlt stürzte Yggdrasils morscher Körper zu Boden. Die Fessel des Fahlen zerriss. Endlich bemerkte Heimdall, was vor sich ging und ließ sein Gjallarhorn ertönen, doch zu spät, zu spät! Der Himmel barst, und es war ragnarök, der Untergang der Götter. Durch alle neun Welten tönte der Schall des Horns und ließ ihre Bewohner erzittern, ob Schwarzalbe oder Riese, Dryade oder Nök. Das Horn schreckte die Götter auf und rief zur Sammlung zum letzten Kampf, doch der Fahle hatte längst den Himmel erreicht. Mit mächtigen Sprüngen jagte er hinter der Sonne her, die ihm zu entfliehen trachtete, stürzte sich auf sie und verschlang sie mit gierigem Knurren. Gernholt sah, wie Dunkelheit sich über die Welt legte. Frost und Eis bedeckten die Erde, der ewige Winter begann.
     
    Böses bringt der Sippenstreit , dachte Volker, während er durch das Lager streifte. Teilnahmslos saßen oder lagen die Niflungen im Gras und stierten vor sich hin. Je länger die Nacht dauerte, desto mehr sank ihre Zuversicht. Am Morgen würde ihre Kampfkraft gebrochen sein, und damit wären ihre ohnehin geringen Siegesaussichten dahin.
    Volker ergriff seine lyra und fing mit klarer Stimme an zu singen. Obwohl etwas Gespenstisches darin lag, inmitten der Toten und der brennenden Scheiterhaufen Heldenlieder vorzutragen, verfehlte es doch seine Wirkung nicht. Ein Krieger nach dem anderen verließ seinen Lagerplatz und scharte sich um Volker. Als der Skop sein Lied beendete, schlugen die Männer begeistert ihre Schwerter gegen die Schilde.
    Ansgar kam mit Gernholt herüber. »Wir haben dein Jaulen gehört und wollten nach der Ursache sehen«, sagte er. »Es klang, als hättest du dir die Hand verletzt.«
    Volker lachte: »Freut euch, der heutige Abend wird unseren Sieg sehen!«
    »Am Abend bin ich in Walhall zu Gast«, widersprach Gernholt. »Ich sah ragnarök .«
    »Weh über dieses Fest!«, rief jemand. »Wir kamen zum Feiern und
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