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Der Ruf der Steine

Der Ruf der Steine

Titel: Der Ruf der Steine
Autoren: Gary Goshgarian
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Aufmerksamkeit auf die schimmernden Lichtervorhänge in den Farben der amerikanischen Flagge, die soeben auf den Booten im Hafen abgebrannt wurden. Einer prangte in Rot, Weiß und Blau, und der andere in Rot, Weiß und Grün.
    Rauch drang in Peters Kopf, je näher er den Steinen kam. Diesmal schlimmer denn je. Schneidend scharfer Rauch, der ihn kaum atmen ließ. Der Rauch füllte und betäubte seinen Kopf. Peter hielt immer noch Andys Hand, aber er fühlte ihn kaum. Von Sekunde zu Sekunde fühlte er sich schlechter. Ihm war übel, und er spürte deutlich, dass irgendetwas nicht stimmte, nicht so war, wie es sein sollte. Panik packte ihn, aber warum eigentlich? Es war seine Linda, und sie waren endlich wieder vereint. Im Schutz der Steine. Nur sie drei. Kein Grund, sich zu fürchten. Sie würde sie beschützen und Andy zu sich nehmen. Der Junge wollte zu ihr, wollte zu seiner Mom. Linda war eine wunderbare Mutter. Sehr viel besser als er als Vater. Außerdem hatte Andy sie ja nicht lange gehabt. Er war gerade drei Jahre alt gewesen, als sie fortgegangen war. Erst drei, und heute war er erst sechs.
    Erst sechs Jahre alt.
    Er hatte Angst. Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Als er in der Mitte des Kreises neben dem Kalkstein stand, konnte er die Hitze spüren.
    Eine gewaltige Hitze.
    »Du brauchst keine Angst zu haben, Andy«, flüsterte er. »Mommy wird heute Nacht zaubern. Sie wird kommen und für dich sorgen.«
    »Aber ich kann sie nicht sehen!«
    »Du wirst sie sehen. Ganz bestimmt.«
    Noch bevor er den Satz beendet hatte, erschien das Licht. Kein Feuerwerk, sondern Lindas Licht.
    Es begann mit einem dunklen Rot, das sich immer mehr in Orange veränderte. Direkt neben dem Kalkstein wuchs eine glühende Säule aus dem Boden empor und nahm allmählich Umrisse an. Arme lösten sich aus dem wabernden Licht, dann Beine. Ein Kopf formte sich aus der Lava, und am Himmel darüber explodierte das große Finale.
    Zitternd drängte sich Andy ganz nah an seinen Vater.
    »Es ist alles in Ordnung. Das ist Mommy.«
    Die Gestalt inmitten des Kreises streckte ihre Arme nach Andy aus.
    Peter fiel auf die Knie und zog den Jungen ganz eng in seine Arme. So sahen sie Linda entgegen.
    Mit einem Arm umschlang er seinen Sohn, und mit der anderen Hand tastete er nach dem Messer.
    Das gleißende Licht war blendend hell.
    Die Luft erzitterte und blitzte im Ansturm zahlloser Raketen. Andy bebte am ganzen Körper. Mit einem Händchen hielt er sich die Augen zu und blinzelte nur vorsichtig zwischen den Fingern hindurch.
    Peter überlegte noch einmal, wie er es tun wollte. Es musste schnell gehen. Nachdenken war verboten. Die Hand musste dem Befehl des Kopfes gehorchen. Das, was zu tun war, stand jenseits aller weltlichen Moral und jenseits aller irdischen Urteile.
    Seine Hand fühlte sich feucht an, aber er schwitzte nicht. Seine Wunde hatte sich bei der Kletterpartie wieder geöffnet, und Blut rann über seinen Arm. Die Hand glitt fast vom Griff ab.
    Der gesamte Kreis flammte in strahlendem Orange.
    Schicke ihn zu mir, Peter.
    Er zögerte.
    Los.
    »Ich kann dich sehen.« Er blinzelte und hob hinter Andys Rücken das Messer.
    Gib ihn mir.
    Peters Körper zitterte, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas hielt ihn zurück.
    Los!
    Seine Hand zuckte. Fast entglitt ihm das Messer. Tränen strömten über sein Gesicht, und er konnte das Salz schmecken.
    Zart berührte die Schneide Andys Hals. Er hörte, wie der Kleine vor Aufregung laut atmete und verzweifelt das magische Feuer anstarrte, wo seine Mutter erscheinen sollte. Ob er sich noch an sie erinnerte? Im gleißenden Licht betrachtete Peter den weißen Hals seines Sohnes und sah den raschen Pulsschlag, der unterhalb der kleinen Kehle hämmerte.
    Unter Tränen flüsterte Peter. »Ich liebe dich, Andy.«
    Jetzt und für alle Zeiten.
    Ja, jetzt.
    »Aber, Daddy«, schrie der Kleine, »das ist nicht meine Mom!«
    Peter blinzelte in die grausame Helligkeit.
    »Es ist eine andere Frau.«
    In Peters Seele keimte die Blume der Erkenntnis.
    Der Lärm in seinem Kopf verstummte.
    Es war nicht Linda.
    Nicht Linda.
    Nicht Linda.
    Und sie war es auch nie gewesen.
    Mit einem entsetzlichen Schrei riss Peter seinen Sohn aus dem Bannkreis der Erscheinung.
    Direkt vor ihm verzerrte sich das Gesicht der anderen Frau und vibrierte vor Hass. Ihr Körper wurde durch das Feuer gespalten, schwarze Hautfetzen schwebten durch die Luft und zerfielen zischend in den Flammen, und der
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