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Der Ruf der Steine

Der Ruf der Steine

Titel: Der Ruf der Steine
Autoren: Gary Goshgarian
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Luft an, weil er beinahe abgestürzt wäre. Um sich abzustützen, packte er die Sprosse darunter. Langsam kam er wieder zu Atem. Während er das Messer in die Hülle schob, spürte er, wie das Eisen unter seinem Gewicht nachgab. Seit 1860 befanden sie sich in der Wand und hatten Jahr für Jahr geduldig Regen und Frost ertragen.
    Durch die Öffnung über ihm drang helles Mondlicht zu ihm herunter. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass er nie oben ankommen würde. Vor dem hellen Licht zeichnete sich Andys Umriss ab. Seine Schläfen pochten.
    Die nächste Sprosse hielt. Er fasste neuen Mut und zog sich wieder um eine Stufe nach oben. Auch diese wackelte bereits. Andy war direkt über ihm, und Linda wartete auf der Klippe. Bald würde die Familie endlich wieder vereint sein.
    Dann kam ihm ein Einfall. Der Durchmesser des Kamins betrug einen knappen Meter. Er presste seinen Rücken gegen die eine Wand und seine Füße gegen die andere. Die Ziegel waren glatt, aber er fand ausreichend Halt. In der nächsten Minute kletterte er langsam höher und riss unter sich ein Eisen nach dem anderen aus der Wand. Er konnte hören, wie sie unten auf dem Boden des Schachtes aufschlugen.
    Als er den oberen Rand erreichte, hatte er knapp drei Meter Kamin von allen Halterungen befreit. Nun konnten ihm die anderen nicht mehr folgen. Jackie konnte es ihm vielleicht nachmachen, aber die anderen nicht, besonders Merritt mit seiner Bauchwunde nicht. Also hatte er sie doch noch besiegt.
    Peter glitt über den Rand und bemerkte nicht einmal, wie übel er seinen Rücken an den Ziegeln verletzt hatte. Er spürte nicht den geringsten Schmerz.
    Frische Luft. Der süße Duft einer warmen Nacht am Meer. Endlich konnte er durchatmen. Es tat unendlich gut, kein Benzin mehr riechen zu müssen.
    Die Sterne schimmerten durch die Äste der Eichen. Der Tunnel hatte genau den Verlauf genommen, den er erwartet hatte. Sie standen auf einer Lichtung mitten im Wald.
    Andy wartete im Schatten der Bäume. Auf dem Boden neben dem Einstieg entdeckte Peter einen großen Eisendeckel und wuchtete ihn auf die Öffnung. Selbst wenn die anderen den Gang zurückliefen, würde es zu spät sein.
    »Andy?« Er streckte die Hand ins Dunkel.
    Andy trat einen Schritt näher und ergriff sie. Seine Hand war klein.
    Peter schaute quer über das flache Land zum Pulpit’s Point hinüber. Im grellen Licht des Mondes sah der Steinkreis wie ein weißer Käfig aus. Er roch Rauch, süßlich riechenden Rauch von einem Holzfeuer.
    »Es wird Zeit, dass wir zu Mommy gehen.«

 

    36
    Hand in Hand wanderten Vater und Sohn aus dem Schatten der Bäume über die weiten Wiesen und dann den Abhang auf die Klippe von Pulpit’s Point empor.
    »Aber, Daddy, Mommy ist doch tot.«
    »Nein, du Dummerchen.« Angesichts der Dickköpfigkeit seines Sohnes bewies Peter unendliche Geduld. »Jetzt nicht mehr. Sie kommt zu uns zurück«, erklärte er. »Sie wartet schon auf uns.«
    »Dort oben?«
    »Aber natürlich. Das genau will ich dir ja die ganze Zeit sagen. Dein Daddy lügt dich doch nicht an, nicht wahr? Wenn du ganz genau hinsiehst, kannst du sie vielleicht schon sehen.«
    Ein Blitz zuckte über den Himmel, dann noch einer. Und noch einer, gefolgt von gewaltigen Donnerschlägen.
    Peter erschauerte. »Dort!«
    »Aber, Dad, das ist doch das Feuerwerk!«
    Irgendwo in der Hafenbucht wurden von einem Schiff bunte Raketen abgefeuert. Flammend rote und orangefarbene Leuchtkugeln stiegen in den Himmel. Eine nicht sichtbare Menge brüllte vor Begeisterung.
    »Unsinn. Natürlich wartet sie dort oben«, sagte er, aber der allererste Funke eines Zweifels schwang in seiner Stimme mit.
    Mit Andy an der einen Hand und der anderen direkt auf dem Messer, legten sie die letzten Meter bis zu Klippe zurück. Peter sah zu, wie der Himmel aufriss.
    Nach jedem Aufblitzen erhob sich lärmender Applaus. In diesem Fall hatte Andy Recht. Es war tatsächlich das Feuerwerk. Als Kind hatte er immer sehr gespannt auf die nächsten Explosionen gewartet. Am vierten Juli war er jedes Jahr mit seinem Vater auf die Esplanade gegangen. In diesem Jahr fand das Feuerwerk an der Promenade am Hafen statt und das Konzert im Christopher-Columbus-Park.
    Farbige Pilze wuchsen am Nachthimmel empor, und das donnernde Grollen hallte durch die weite Hafenbucht. Das große Finale, auf das jedermann wartete.
    Im Schein des Freudenfeuerwerks führte Peter seinen Sohn zu den Steinen. Sie mussten an Flanagans Leiche vorbei, aber Peter lenkte Andys
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