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Der rote Prophet

Der rote Prophet

Titel: Der rote Prophet
Autoren: Orson Scott Card
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jeder Faden darin verwoben wurde. Wie jene, die oben am Rande des Tuchs umhersprangen und nur gelegentlich ins mittlere Muster eindrangen, nur wenig zur Stärke des Tuchs beitrugen, aber viel zu seiner Farbe. Während manche, deren Farbe kaum zu sehen war, am tiefsten verwoben und alles zusammenhielten. In diesen verborgenen, verbindenden Fäden lag etwas Gutes. Von diesem Augenblick an sollte Alvin immer wieder einen ruhigen Mann oder eine stille Frau bemerken, die von den anderen kaum beachtet wurden und dennoch das Leben eines Dorfs zusammenhielten und alles miteinander verbanden. Stumm sollte Alvin solchen Menschen in seinem Herzen Ehre erweisen, weil er wußte, wie ihr Leben den Stoff kräftigte.
    Er dachte auch an die vielen Fäden, die an jenem Punkt endeten, an dem Ta-Kumsaws Schlacht stattfinden sollte. Es war, als hätte Ta-Kumsaw an das Tuch die Schere angelegt.
    »Gibt es denn keine Möglichkeit, die Dinge zu heilen?« fragte Alvin. »Gibt es denn keine Hoffnung darauf, diese Schlacht von vorneherein zu verhindern, damit alle diese Fäden nicht zerstört werden?«
    Becca schüttelte den Kopf. »Selbst wenn Isaac sich weigern würde hinzugehen, würde die Schlacht doch ohne ihn stattfinden. Nein, die Fäden werden durch nichts zerstört, was Isaac getan hat. Sie sind in jenem Augenblick zerrissen, als irgendein roter Mann sich zu einer Handlung entschied, die mit Sicherheit seinen Tod in der Schlacht bedeuten mußte. Sollte dir das Sorgen machen, so kann ich dir sagen, daß dies nicht zu jener Zeit war, als du und Isaac umherwanderten und den Tod predigten. Ebensowenig hat Old Hickory Menschen getötet. Ihr seid alle nur umhergegangen und habt verschiedene Wege gewiesen. Sie hätten euch nicht glauben müssen. Sie hätten sich nicht zum Sterben entscheiden müssen.«
    »Aber sie wußten doch gar nicht, was sie da wählten.«
    »Sie wußten es doch«, widersprach Becca. »Wir wissen es immer. Wir gestehen es uns zwar nicht ein; erst im Augenblick des Todes selbst, Alvin, erkennen wir unser ganzes Leben und begreifen, wie wir an jedem Tag unseres Lebens die Art unseres Todes gewählt haben.«
    »Und was ist, wenn irgend jemandem etwas auf den Kopf fällt?«
    »Dann hat er es sich ausgesucht, genau dort zu sein, wo so etwas passieren kann, und er hat nicht nach oben geschaut.«
    »Das glaube ich nicht«, sagte Alvin. »Ich glaube, daß die Menschen immer ändern können, was auf sie zukommt, und ich glaube auch, daß manchmal Dinge geschehen, die niemand haben wollte.«
    Becca lächelte ihn an und streckte den Arm aus. »Komm her, Alvin. Laß mich dich festhalten. Ich liebe deinen schlichten Glauben, Kind. Diesen Glauben möchte ich festhalten, auch wenn ich selbst nicht daran glauben kann.«
    Sie hielt ihn eine Weile fest, und ihr Arm fühlte sich so sehr wie der seiner eigenen Mutter an, kräftig und sanft zugleich, daß er ein wenig weinte. Er war zu klug, darum zu bitten, seinen eigenen Faden schauen zu dürfen, obwohl er sich vorstellte, daß sein Faden leicht zu finden sein mußte – es war der eine Faden, der in jenem Teil des Stoffs geboren worden war, welcher dem weißen Mann gehörte, der aber hinüberwechselte und grün wurde. Bestimmt war er grün, wie die Fäden der Anhänger des Propheten.
    Einer Sache war er sich auch gewiß, daß er nicht einmal fragte, obwohl er sich wahrhaftig nicht scheute, jede Frage zu stellen, die ihm einfiel: Er war sicher, daß Becca wußte, welcher Faden Ta-Kumsaw gehörte, und er wußte auch, daß seiner und Ta-Kumsaws Faden miteinander verknüpft waren, zumindest für eine Weile. Solange Alvin bei ihm blieb, würde Ta-Kumsaw am Leben bleiben. Alvin wußte, daß die Prophezeiung zwei Wege kannte: Jenen, in dem Alvin zuerst starb und Ta-Kumsaw allein zurückließ, der dann ebenfalls sterben würde; und jener, in dem keiner von beiden starb und ihre Fäden weiterliefen, bis sie schließlich verschwanden.
    Alvin verbrachte die Nacht auf einer Matte auf dem Fußboden der Bibliothek. Er schlief ein, nachdem er ein paar Seiten in einem Buch gelesen hatte, das von einem Mann namens Adam Smith geschrieben war. Er wußte nicht, wo Ta-Kumsaw schlief, und er wollte auch nicht danach fragen. Alvin war klar, daß es Kinder nichts anging, was ein Mann mit seiner Frau tat; doch er fragte sich, ob Ta-Kumsaws Hauptgrund, hierher zurückzukehren, nicht so sehr sein Wunsch gewesen war, den Webstuhl zu betrachten, sondern vielmehr das Verlangen, von dem Becca gesprochen hatte. Das
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