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Der Rote Mond Von Kaikoura

Der Rote Mond Von Kaikoura

Titel: Der Rote Mond Von Kaikoura
Autoren: Anne Laureen
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war erstaunt über die Mengen an Gepäck, die einige Reisende mit sich führten. Ein Koffer war derart groß, dass sie und ihr Großvater darin bequem hätten Tee trinken können. Stimmengewirr erfüllte die Gänge, ein paar Fetzen Dänisch und Schwedisch drang an ihr Ohr, aber Deutsch suchte sie vergebens. Dabei waren einige Deutsche mit an Bord gewesen; während der Reise waren sie ihnen im Speisesaal begegnet und hatten sich gelegentlich ein wenig mit ihnen unterhalten.
    Der frische Wind, der ihnen vom Oberdeck entgegenwehte, löste die Wolke aus Parfüm, Schweiß und abgestandener Luft auf, die lastend über ihnen gehangen hatte. Während sie tief einatmete, ließ die Vorfreude Lillians Bauchdecke flattern und weckte beinahe schon schmerzlich den Wunsch in ihr, Adele bei sich zu haben. Endlich oben angekommen, konnte sie nun fast den gesamten Hafen überblicken. Neben der Seaflower hatten noch einige andere Schiffe im Hafen festgemacht, darunter ein kleines Postdampfschiff, das einen schrillen Pfiff ausstieß, bevor die Maschinen heruntergefahren wurden. Vielleicht könnten damit bereits meine Briefe auf Reisen gehen, dachte sie. Ich sollte sie noch am Hafen aufgeben.
    Als sie zur Seite schaute, bemerkte sie, dass der Blick ihres Großvaters ein wenig abwesend auf die Hügel jenseits der Stadt gerichtet war, die trotz des Dunstes gut zu erkennen waren.
    »Alles in Ordnung, Großvater?« Sanft legte sie die Hand auf seinen Arm.
    Georg zuckte kurz zusammen. »Ja, ja, alles in Ordnung. Ich habe mir nur vorgestellt, wie sie aussehen wird.«
    »Von hier aus wird sie nicht zu sehen sein«, entgegnete Lillian. »Kaikoura ist doch ein gutes Stück entfernt.«
    »Da hast du recht, mein Kind, aber dennoch komme ich nicht umhin, mir bei jedem Hügel vorzustellen, wie es wäre, eine Sternwarte dort zu errichten. Ich bin davon überzeugt, dass es in einigen Jahren viele in diesem Land geben wird.« Er streckte den Arm aus und deutete mit dem Finger auf die Kuppe des höchsten Hügels. »Wenn sie dort oben stehen würde, könnte man hier in Christchurch an klaren Tagen die Spiegelung der Sonne in der Kuppel erkennen.« Wieder schweifte der Blick ihres Großvaters ab, und da sie ihn gut kannte und wusste, dass es zwecklos war, ihn aus seinen Träumen zu reißen, wenn er einmal in ihnen versunken war, konzentrierte sich Lillian wieder auf die Menschenmenge vor ihnen. Eine Frau trug in einem Käfig ein kleines Äffchen bei sich, wahrscheinlich ein Souvenir von der Reise, die sie und ihr Gatte unternommen hatten. Ein paar Kinder widersetzten sich lautstark den Versuchen ihrer Gouvernante, sie zur Ordnung zu rufen, während ein paar andere Damen sich Hüte und Jacken zurechtrückten, obwohl es dort eigentlich nichts zurechtzurücken gab.
    Endlich erreichten sie den Offizier, der dafür zuständig war, die Passagiere zu verabschieden. Obwohl er seinen Dank und seine guten Wünsche sicher schon zigmal wiederholt hatte, lächelte er Lillian und ihren Großvater an und sagte seine Grußformel ein weiteres Mal.
    Als sie das Schiff hinter sich gelassen hatten, schwankte der Landungssteg unter dem Gewicht der Reisenden ein wenig, was eine ängstliche Frau vor ihnen zu dem Ausruf veranlasste: »James, halt mich fest, ich will nicht ins Hafenbecken fallen!«
    Der Gerufene stieß ein Seufzen aus, dann entgegnete er: »Liebling, der Steg ist so breit, dass selbst deine Mutter noch mit draufpassen würde, ohne Gefahr zu laufen, ins Wasser zu fallen.«
    »Trotzdem, halt mich fest! Bitte!«
    Wieder ein Seufzen, dann umfasste die Hand des Mannes den Arm seiner Gattin.
    Lillian hielt sich rasch die Hand vor den Mund, um nicht loszuprusten. Erkannte der Mann denn nicht, dass seine Frau nicht von ihm festgehalten werden wollte, weil ihr der Steg Angst machte, sondern weil sie sich vor dem Unbekannten fürchtete, vor der Stadt, die vor ihnen lag?
    Die beiden Frauen vor dem Paar schienen jedoch wirklich Angst vor dem Schaukeln zu haben. Bis zum Ende des Landungsstegs wurde Lillian das Bild der beiden nicht mehr los, die sich zitternd so fest aneinanderkrallten, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.
    Ihrem Großvater und ihr machte das Schaukeln nichts aus. Eher erschien es Lillian seltsam, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. An das Schwanken hatte sie sich in den vergangenen Monaten dermaßen gewöhnt, dass es ihr nun vorkam, als seien ihre Beine steif und mit Bleigewichten beschwert.
    Ihr Großvater hingegen schritt aus, als sei er
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