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Der Rote Mond Von Kaikoura

Der Rote Mond Von Kaikoura

Titel: Der Rote Mond Von Kaikoura
Autoren: Anne Laureen
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in eine bunt bemalte, längliche Schachtel steckte. Sie hatte sie eigens zu diesem Zweck mitgenommen.
    Lächelnd strich sie mit dem Finger über die Kanten der Briefe, die fein säuberlich in der Schachtel aufgereiht standen wie Soldaten bei einer Parade. Die Geschichte ihrer Reise. Vielleicht sollte ich sie ausdehnen und Adele weiterhin einmal im Monat einen langen Brief schreiben, dachte Lillian, während sie der Schachtel wieder den Deckel aufsetzte. Auch wenn ihre Freundin keinen Sinn für Astronomie hatte und meist zu einer Häkelarbeit gegriffen hatte, wenn sie von Sternkarten und Mondkratern berichtet hatte, würde es sie und ganz bestimmt auch ihren Vater interessieren, wie die Arbeit ihres Großvaters auf Neuseeland voranging.
    »Lillian?«, fragte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Alles in Ordnung, mein Kind?«
    Die Koje knarrte, als sich ihr Großvater erhob. Seit sie auf Reisen waren, war sein Schlaf unregelmäßig geworden. Darauf angesprochen, würde er sicher antworten, dass alte Menschen nicht mehr so viel Schlaf brauchten, aber Lillian konnte sich noch gut daran erinnern, dass es vor ihrer Abreise anders gewesen war. Manchmal hatte sie ihn in seinem ledernen Ohrensessel vorgefunden, in dem er über einer wissenschaftlichen Abhandlung eingeschlafen war.
    Jetzt wälzte er sich oft ruhelos in seiner Koje herum, stöhnte manchmal im Schlaf und wachte unvermittelt auf, als hätte er einem schrecklichen Traumbild entfliehen wollen. Vielleicht hat er ja auch von Papa und Mama geträumt, dachte Lillian beklommen; dann antwortete sie: »Ja, Großvater, es ist alles in Ordnung. Ich konnte nur nicht mehr schlafen und habe einen Brief an Adele geschrieben.«
    Den Traum erwähnte sie nicht. Sie hatte ihn ja nicht einmal Adele gebeichtet. Nein, sie würde ihn einfach vergessen. Ihn und die fremden Worte, die sie gehört hatte. Sie bedeuteten ebenso wenig wie die Bilder.
    Ihr Großvater kletterte aus seiner Koje und zog sich seinen Morgenmantel über. Dann trat er neben sie und warf lächelnd einen Blick auf die Schachtel.
    »Das arme Mädchen wird Wochen damit zu tun haben, all deine Briefe zu lesen. Vielleicht solltest du gnädig mit ihr sein.«
    »Aber Briefe zu lesen ist doch für Adele keine Strafe. Sie musste die ganze Zeit über auf die Gespräche mit mir verzichten, da wird sie sich über die viele Post sicher freuen.«
    »Sie wird für eine ganze Weile nicht aus dem Haus kommen, wenn sie das wirklich tut. Und das gerade im Frühjahr.«
    Lillian dachte an die Frühlingsfeste und den Ostersonntag, an dem sie beide schon früh am Morgen zu den Rheinwiesen gelaufen waren, um Osterwasser zu holen. Dabei hatten sie immer versucht, einander zum Reden oder Lachen zu bringen, was am Ostermorgen strikt verboten war, wenn man noch im selben Jahr einen Bräutigam haben wollte. Aber die Sache mit dem Bräutigam war für sie beide bis zum letzten Osterfest ohnehin nur ein ferner Traum gewesen. Als Tochter eines angesehenen Kölner Kaufmanns würde Adele mit ihrem Osterwasser wohl nur wenig Einfluss auf die Gattenwahl ausüben können. Bald würden hoffnungsvolle junge Männer um ihre Hand anhalten, und im Wesentlichen würden ihre Eltern darüber entscheiden, mit wem sie den Bund fürs Leben einginge. Lillian dagegen war die Enkelin eines als verschroben geltenden Astronomen; ihre Aussichten, bald zu heiraten, standen eher schlecht.
    »Sie wird sie lesen«, sagte Lillian, während sie ihre Schachtel an sich drückte, als befürchtete sie, dass sie ihr jemand stehlen könnte. »Adele ist nicht so unvernünftig, das Leben über irgendeine Lektüre zu vergessen. Aber als meine beste Freundin wird sie sie alle lesen, nach und nach, da bin ich mir sicher.«
    Georg Ehrenfels lächelte sie an, und Lillian meinte, beinahe ein wenig Bedauern in seinem Blick zu sehen. Ihrem Großvater war klar, dass er sie von allem, was sie kannte und liebte, fortgeholt hatte. Doch mittlerweile, trotz des Heimwehs, hatte Lillian sich damit abgefunden und freute sich auf all das Neue, das ihr bevorstand.
    Nachdem sie die Schachtel mit den Briefen unter ihrer Bettstatt verstaut hatte, legte sie sich wieder in die Koje. »Willst du dich nicht auch wieder hinlegen?«, fragte sie ihren Großvater, während sie die noch warme Decke bis zum Kinn hochzog.
    »Nein, mein Liebes, ich sehe mir noch ein wenig die Sterne an. Du weißt doch, in meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf.«
    Damit setzte er sich auf den Stuhl neben dem Fenster, lehnte
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