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Der Rote Mond Von Kaikoura

Der Rote Mond Von Kaikoura

Titel: Der Rote Mond Von Kaikoura
Autoren: Anne Laureen
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sich mit einem leichten Seufzer zurück und blickte in die Nacht hinaus.
    Immer, wenn er in die Sterne sah, hatte Georg Ehrenfels das Gefühl, die vielen Lebensjahre, die er mit sich herumschleppte, würden einfach von ihm abfallen. Angesichts des Glitzerns und Funkelns auf dem dunkelblauen Nachthimmel wurde er wieder zu dem kleinen Jungen, der an der Hand seines Großvaters nach oben schaute und versuchte, all die Sterne zu zählen, die über ihm funkelten wie Brillanten auf einer teuren Abendrobe.
    »Es wird dir nicht gelingen«, hatte sein Großvater Roland Ehrenfels lachend bemerkt, doch der Junge hatte sich nicht davon abbringen lassen. Und auch jetzt ertappte sich Georg dabei, dass er begann, die blinkenden Lichtpunkte zu zählen.
    Nein, dachte er dabei, es würde ihm nicht gelingen, alle Sterne zu zählen, wenngleich er ebenso wie viele andere Astronomen damit begonnen hatte, sie zu katalogisieren. Ihre Namen und Nummern füllten mittlerweile dicke Folianten, und ein Ende war nicht abzusehen. Wenn ein Stern in einer wunderbaren Nova starb, tauchten gleich drei oder vier neue auf. Georg war inzwischen derselben Meinung wie sein Großvater: Nie würde es den Menschen gelingen, die gesamte Anzahl der Sterne zu kennen. Aber vielleicht würden sie eines Tages zu ihnen reisen können. Und vielleicht würden die Menschen kommender Generationen auch herausfinden, was sich auf der Rückseite des Mondes befand.
    Viele große Pläne hatte Georg nicht mehr, doch an einem hielt er nun schon seit beinahe fünf Jahrzehnten fest. Er musste ein Versprechen einlösen, das er damals gegeben hatte, eine Schuld abtragen, die er auf sich geladen hatte. Wahrscheinlich würde es das Letzte sein, was er in diesem Leben tat, aber das war ihm egal.
    Während er versonnen die Sternbilder betrachtete, kamen ihm andere Erinnerungen wieder in den Sinn. Seine erste Reise auf einem Klipper, einem jener windschnittigen, schnellen Segelschiffe, die mit ihren stählernen Leibern die Weltmeere beherrscht hatten. Wenn alles anders gekommen wäre, dachte er sich, wo wärst du dann? Vielleicht noch immer auf See, in jedem Hafen eine Braut. Oder hättest du dich dennoch den Sternen verschrieben?
    Ein leises Seufzen riss ihn aus seinen Überlegungen. Als er sich zu Lillian umsah, bemerkte er, dass sie wieder eingeschlafen war. Lillian, die Einzige, die ihm geblieben war. Mit einem schmerzlichen Lächeln auf den Lippen erhob er sich und trat an ihre Koje. Sie erinnerte ihn so sehr an ihren Vater, seinen Sohn, der ihm viel zu früh genommen worden war. Er hätte sein Erbe weitertragen sollen, doch das Schicksal hatte etwas anderes vorgehabt. Nun würde sein Erbe in den zarten Händen seiner Enkelin liegen. Würde sie stark genug sein? Sicher, sie war klug und hatte seinen Dickkopf geerbt. Doch würde das ausreichen in einer Welt, in der er selbst schon Schwierigkeiten hatte, seine Vorhaben zu realisieren?
    So weit ist es noch nicht, sagte er sich. Noch bleibt mir Zeit. Wenn die Götter wollen, bleibt mir genug Zeit, um meine Arbeit hier zu vollenden und Lillian ein fertiges Werk in die Hände zu legen.
    Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne von der Wange, dann legte er sich wieder in seine Koje. Vielleicht würden die Kinder des Lichts ihm doch noch ein wenig Schlaf gewähren.

2
    Drei Tage später machte sich die Seaflower bereit, in Christchurch einzulaufen. Schon am frühen Morgen hatte einer der Schiffsjungen im Ausguck den Kirchturm der Stadt am Horizont ausgemacht. Bis die Matrosen und Passagiere endlich die Küste zu Gesicht bekamen, dauerte es allerdings noch eine Weile.
    Spätestens als sich die Landmasse der neuseeländischen Südinsel schließlich vor ihnen ausbreitete, brach auf dem Dampfer hektische Betriebsamkeit aus.
    Während die Seeleute auf dem Oberdeck umherwimmelten und schließlich der Lotse an Bord kam, um das Dampfschiff sicher ins Hafenbecken zu bringen, waren die Passagiere damit beschäftigt, ihre Kajüten zu räumen, die in den vergangenen Monaten für fast alle so etwas wie eine zweite Heimat geworden waren.
    Dienstboten der höhergestellten Reisenden schleppten schwere Truhen und wuchtige Überseekoffer durch die Gänge. Wenn sich zwei von ihnen dabei so ins Gehege kamen, dass keiner mehr am anderen vorbeikonnte, hagelte es Beschimpfungen und Flüche, die an Land sicher für einige schockierte Mienen gesorgt hätten. Doch die englischen Seeleute waren nicht besonders zimperlich; von ihnen hatten die Passagiere noch ganz
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