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Der Regler

Der Regler

Titel: Der Regler
Autoren: Max Landorff
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trank das Mineralwasser in einem Zug. Er schloss die Tür, stellte die Flasche auf den Boden und setzte sich wieder vor die Bildschirme. Er blickte in die Augen des Wissenschaftlers auf dem großen Foto. Was hattest du in einem Pferdetransporter zu suchen, Harry? Was hat dein Tod mit mir zu tun? Wer hat mich angerufen? Du?
    Unser Gehirn sucht ständig nach Ordnung. Es will Strukturen erkennen – in allem, was ihm aufgetischt wird vom Leben. Kerkhoff hatte darüber ein bemerkenswertes Buch geschrieben:
Über die Korrelation von Emotion und strukturellem Denken.
Wir suchen nach der Struktur einer Geschichte, wenn wir einen Film sehen, wir suchen nach der Struktur im Charakter eines Menschen, den wir kennenlernen, wir wollen den Ablauf von Ereignissen dadurch verstehen, dass wir ein Muster erkennen. »Füttere das Gehirn des Menschen mit Struktur«, hatte Kerkhoff gesagt, »dann nimmst du ihm die Angst.«
    Tretjak beschloss, den Kommissar später anzurufen, dessen Visitenkarte noch auf dem Küchentisch lag. Er würde ihm die Wahrheit sagen: Ja, er hatte Kerkhoff gekannt. Er hatte ihn gut gekannt.
    19 Uhr 20 zeigte die Digitalanzeige am unteren Rand des Bildschirms an. Es wurde Zeit, er musste aufbrechen. Sein Tisch in der
Osteria
war reserviert, wie immer der Tisch in der zweiten Nische rechts vom Eingang. Ein Klient wartete dort. Oder besser: ein Mann, der sein Klient werden wollte. Ein Landtagsabgeordneter, kein bekannter, eher ein Hinterbänkler. Tretjak wusste bisher nur ein paar Stichworte. Der Name des Mannes stand auf der Kundenliste eines Callgirlrings, der Männer mit jungen Ukrainerinnen belieferte – und jetzt aufgeflogen war. »Helfen Sie dem Mann, Tretjak. Regeln Sie das. Bitte.« Diese Nachricht hatte er nach der Landung aus Sri Lanka auf seiner Mailbox abgehört. Die Stimme war die eines Ministers gewesen, eines Ministers der Bundesregierung in Berlin.
    Tretjak betätigte eine Tastenkombination auf der Tastatur, und alle Bildschirme wurden schwarz. Ein paar Augenblicke blieb er noch sitzen und starrte auf die große schwarze Fläche an der Wand. Mit Kerkhoff zusammen hatte er damals das erarbeitet, was er später als »die sieben Gebote« seines Jobs bezeichnete. Es war Kerkhoff gewesen, der ihm gesagt hatte: »Das, was du tust, greift in Lebensgeschichten ein, in Wertesysteme von Menschen … Du spielst Schicksal, ist dir das eigentlich klar? Wenn du das weiter betreiben willst, brauchst du feste Grundsätze, die dein Handeln strukturieren, eine Art innere Verfassung. Ein paar unverrückbare Pfeiler, an denen du dich festhalten kannst. Wenn du die nicht hast, wirst du ins Schwimmen geraten, und es wird gefährlich. Nicht nur für dein Konto, sondern auch für deine Seele.«
    Tretjak stand auf, begab sich in sein Ankleidezimmer und zog sich um. Er wählte ein frisches weißes Hemd und den dunkelblauen Anzug, den er im März in Mailand gekauft hatte. Er steckte sein Telefon ein, schlüpfte in einen leichten schwarzen Sommermantel. Mehr brauchte er nicht. Papier und Stift würden wie immer schon bereitliegen auf seinem Tisch im Lokal.
    Die Klingel gab einen angenehm melodischen Ton von sich. Dann eine Stimme in der Sprechanlage: »Ihr Taxi ist da, Herr Tretjak.«
     
    Als Tretjak fast vier Stunden später das italienische Restaurant
Osteria
in der Schellingstraße 95 verließ, beschloss er, zu Fuß nach Hause zu gehen. Es war zwar noch nicht richtig warm, aber die Luft würde ihm guttun. Er blieb vor dem Restaurant kurz stehen, knöpfte seinen Mantel bis unter den Hals zu, blickte nach oben zum Himmel und erkannte trotz der Straßenlaternen: sternklar. Für einen ganz kurzen Moment stellte sich ein Gefühl aus seiner Jugend ein. Das passierte selten, sehr selten. Und wenn, dann immer ohne Vorwarnung, überfallartig. Diesmal war es ein schönes Gefühl, ein Gefühl der Erleichterung. Damals, in der Zeit, als er 11, 12 Jahre alt gewesen war, hatte ein sternklarer Himmel die Möglichkeit zur Flucht bedeutet. Dann wusste er, dass er in dieser Nacht dem Elend entkommen konnte, weit weg, Lichtjahre weit weg. Wenn er in sein Zimmer ging und den Koffer mit seinem Fernrohr holte, hatte er den Segen all der Menschen, die damals sein Leben beherrschten. Sie sagten dann etwas in der Sprache, die er nicht verstand. Aber er sah an ihrem Lächeln, dass es etwas Nettes war.
    Tretjak wandte den Blick vom Himmel ab nach vorn in Richtung Ludwigstraße und schlug ein zügiges Tempo an.
    Der Landtagsabgeordnete war ihm
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