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Der Regen in deinem Zimmer - Roman

Der Regen in deinem Zimmer - Roman

Titel: Der Regen in deinem Zimmer - Roman
Autoren: Aufbau
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könnten wir der Zeit noch Zeit stehlen, Schleichwege und Fluchten schaffen.
    Sie starb eines Morgens, als ich in der Schule war. Schon seit einigen Tagen war sie nicht mehr aufgestanden. Der Arzt hatte die Morphindosis erhöht, und sie schlief fast nur noch. Sie sprach kaum, und hielt man ihre Hand, drückte sie sie nicht mehr. Ich wollte an dem Tag nicht zur Schule, aber Nonna zwang mich. Sie meinte, ein paar Stunden Ablenkung täten mir gut und wenn etwas sei, würde sie mich sofort anrufen. Als mein Handy summte und ich den Namen meiner Großmutter auf dem Display sah, wusste ich, was kommen würde. Ich sagte der Lehrerin, ich müsse sofort nach Hause, und rannte, ohne jemanden anzusehen, hinaus. Noch immer kann ich mir nicht verzeihen, an dem Tag nicht daheimgeblieben zu sein. Nicht da gewesen zu sein. Während ich wie eine Irre auf meinem Motorroller nach Hause raste und mir sagte, es könne nicht wahr sein, wurde mir klar, dass ich nie wirklich geglaubt hatte, dieser Moment könnte eintreten. In den zwei langen Jahren hatte ich mich daran gewöhnt, sie krank zu sehen, und irgendwannangefangen zu glauben, es würde immer so bleiben. Als ich sie daliegen sah, reglos, den Mund halb geöffnet, die Arme schlaff zu beiden Seiten, überfiel mich wieder die Angst und saugte mich aus. Natürlich hatte ich manchmal überlegt, wie es sein würde, sie tot zu sehen, aber selbst in jenem Augenblick, den grausig banalen Tod vor Augen, konnte ich es nicht fassen. Mit angehaltenem Atem ging ich zum Bett und starrte in ihr lebloses Gesicht, dann griff ich ihre Hände, drückte sie, rief sie, beugte mich zu ihr hinab, küsste sie und legte meine Stirn gegen ihre. Meine Großmutter stand in der Tür und wisperte mit tränenüberströmtem Lächeln: Sie ist nicht mehr da. Sie war nicht mehr da. Der Boden tat sich unter mir auf und die Angst presste mich an ihre Brust, bis ich nur noch den Pesthauch ihrer Lungen atmete. Meine Mutter war nicht mehr da.
    Zu ihrer Beerdigung kamen außer Nonna und mir noch Angela und Claudia, die Uraltfreundinnen meiner Mutter. Für den Grabstein hatte ich ein Foto ausgesucht, dass ich an meinem letzten Geburtstag von ihr gemacht hatte: Sie lächelte mich an, und eine dichte dunkle Haarsträhne fiel ihr in die Stirn. Sie war wunderschön, wenn sie lächelte. Es war ein Herbsttag und die Sonnenstrahlen des Spätnachmittags ließen alles noch trostloser erscheinen. All dieses goldene Licht. Nonna und ich konnten uns nicht in die Augen sehen. Wir waren verstört und wehrlos. Wir hatten zu viele Hände gedrückt, den schweren Duft der vielen Blumen geatmet. Von der Kirche erinnere ich knarrende Bänke, gedämpftes Flüstern und ein durch Tränenschleier und Sonnenbrille wahrgenommenes Wirrwarr von Gesichtern. Als alles vorbei war, hakte ich meine Großmutter unter und wir verließen wortlos den Friedhof.
    In den folgenden Tagen machten wir uns daran, ihre Sachen zu ordnen, auch wenn wir kaum den Mut dazu hatten. Sämtliche Kleidungsstücke, die monatelang über den Stuhllehnen in ihrem Schlafzimmer gehangen hatten, wurden gewaschen, zusammengefaltet und in ihren Schrank geräumt. Das Bett wurde neu bezogen, die Fensterläden angelehnt. Meine Großmutter engagierte eine Frau, die uns zur Hand gehen sollte. Eigentlich war das nicht nötig, doch ich glaube, sie konnte Mamas Zimmer nicht betreten, ohne dass der ganze Schmerz dieser zwei Jahre über sie hereinbrach. Signora Rosa schien in ihrem Leben nichts anderes gemacht zu haben, als trauernden Familien unter die Arme zu greifen. Sie tat alles ganz sacht. Sie brühte meiner Großmutter einen heißen Tee und überredete sie, sich aufs Sofa zu legen und ein bisschen fernzusehen. Die ganze Zeit über erkundigte sie sich kein einziges Mal, wie die Sachen meiner Mutter zu ordnen seien, sondern fragte lediglich Dinge wie: Würden sich die Zimmerpflanzen an einem sonnigeren Platz nicht wohler fühlen? Sollte sie die Fußmatte im Eingang ausklopfen? Ehe sie das Bett in Mamas Zimmer machte, flüsterte sie mir zu, es sei besser, erst ein bisschen zu lüften. Dabei nahm sie meine Hand und sah mich mit dem aufrichtigen Mitgefühl eines Menschen an, der den Schmerz anderer nicht fürchtet. Sofort wurde das Zimmer von kühler Luft erfüllt, doch den Geruch nach Medikamenten und Tod habe ich bis heute in der Nase. Meine Großmutter blieb im Wohnzimmer und starrte gramerfüllt in die Buchenkrone vor dem Fenster. Ich zeigte Rosa, wo alles hingehörte. Ich war die Priesterin,
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