Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee
Autoren: Lian Hearn
Vom Netzwerk:
etwas bewegte, und lief zu ihr. Kaede schaute Shizuka an und sah die tiefe Besorgnis in ihren Augen. Sie erkannte, wie wichtig diese Frau für sie geworden war, ihre engste, eigentlich ihre einzige Freundin.
    »Nichts. Ein Halbtraum.«
    »Geht es Ihnen gut? Wie fühlen Sie sich?«
    »Ich weiß nicht. Ich fühle…« Kaedes Stimme erstarb. Sie betrachtete Shizuka einige Augenblicke. »Habe ich den ganzen Tag geschlafen? Was ist mit mir passiert?«
    »Er hätte Ihnen das nicht antun sollen.« Shizukas Ton war scharf vor Sorge und Wut.
    »War es Takeo?«
    Shizuka nickte. »Ich hatte keine Ahnung, dass er über diese Fähigkeit verfügt. Es ist eine Begabung der Kikutafamilie.«
    »Das Letzte, an das ich mich erinnere, sind seine Augen. Wir haben einander angeschaut und dann bin ich eingeschlafen.«
    Nach einer Pause sagte Kaede: »Er ist fort, nicht wahr?«
    »Mein Onkel Muto Kenji und das Familienoberhaupt der Kikuta, Kotaro, haben ihn letzte Nacht abgeholt«, antwortete Shizuka.
    »Und ich werde ihn nie wieder sehen?« Kaede dachte an ihre Verzweiflung in der vergangenen Nacht, vor dem langen, tiefen Schlaf. Sie hatte Takeo gebeten, sie nicht zu verlassen. Sie hatte sich vor der Zukunft ohne ihn geängstigt, war wütend und gekränkt gewesen, weil er sie zurückwies. Doch dieser ganze Sturm hatte sich gelegt.
    »Sie müssen ihn vergessen.« Shizuka nahm Kaedes Hand und streichelte sie sanft. »Von jetzt an können sein und Ihr Leben einander nicht berühren.«
    Kaede lächelte schwach. Ich kann ihn nicht vergessen, dachte sie. Und er kann mir nie genommen werden. Ich habe im Eis geschlafen. Ich habe die Weiße Göttin gesehen.
    »Geht es Ihnen gut?«, fragte Shizuka wieder, diesmal drängend. »Nicht viele Menschen überleben den Kikutaschlaf - die meisten werden getötet, bevor sie wieder daraus erwachen können. Ich weiß nicht, wie er auf Sie gewirkt hat.«
    »Er hat mir nicht geschadet. Aber er hat mich in gewisser Weise verändert. Ich habe das Gefühl, nichts zu wissen. Als müsste ich alles neu lernen.«
    Shizuka kniete sich verwirrt vor sie, forschend betrachtete sie Kaedes Gesicht. »Was werden Sie jetzt tun? Wohin werden Sie gehen? Werden Sie mit Arai nach Inuyama zurückkehren?«
    »Ich glaube, ich sollte nach Hause, zu meinen Eltern. Ich muss meine Mutter sehen. Ich habe solche Angst, dass sie gestorben ist, während wir die ganze Zeit in Inuyama aufgehalten wurden. Ich werde am Morgen aufbrechen. Wahrscheinlich solltest du Lord Arai davon unterrichten.«
    »Ich verstehe Ihre Sorge«, entgegnete Shizuka. »Aber Arai möchte Sie vielleicht nicht gehen lassen.«
    »Dann werde ich ihn überreden müssen«, sagte Kaede ruhig. »Zuerst muss ich etwas essen. Lässt du mir eine Kleinigkeit zubereiten? Und bring mir Tee, bitte.«
    »Lady.« Shizuka verneigte sich vor ihr und verließ die Veranda. Während sie davonging, hörte Kaede die klagenden Klänge einer Flöte, die jemand, der nicht zu sehen war, im Garten hinter dem Tempel spielte. Sie glaubte den Musiker, einen der jungen Mönche, von ihrem ersten Besuch im Tempel zu kennen, aber sie erinnerte sich nicht an seinen Namen. Damals hatten sie sich die berühmten Gemälde von Sesshu angesehen. Die Musik machte ihr das Unvermeidliche von Leiden und Verlust klar. Die Bäume rauschten im aufkommenden Wind und Eulenrufe tönten vom Berg herab.
    Shizuka kam mit dem Tee zurück und goss Kaede eine Tasse ein. Kaede trank, als würde sie zum ersten Mal Tee kosten, jeder Tropfen offenbarte ihrer Zunge seinen eigenen unverkennbaren, rauchigen Geschmack. Und als die alte Frau, die sich um Gäste kümmerte, Reis und Gemüse mit Bohnenmus brachte, war es, als hätte Kaede noch nie zuvor Essen geschmeckt. Sie staunte im Stillen über die neuen Kräfte, die in ihr geweckt worden waren.
    »Lord Arai wünscht Sie zu sprechen, bevor der Tag zu Ende geht«, sagte Shizuka. »Ich habe ihm erklärt, dass Sie sich nicht wohl fühlen, aber er hat darauf bestanden. Wenn Sie ihn jetzt nicht sehen möchten, richte ich ihm das aus.«
    »Ich weiß nicht, ob wir uns gegenüber Lord Arai so verhalten können«, sagte Kaede. »Wenn er es befiehlt, muss ich zu ihm gehen.«
    »Er ist sehr wütend«, sagte Shizuka leise. »Dass Takeo verschwunden ist, hat ihn beleidigt und erzürnt. Er sieht darin den Verlust von zwei wichtigen Verbündeten. Jetzt ist fast sicher, dass er ohne Takeo an seiner Seite gegen die Otori kämpfen muss. Er hatte auf eine rasche Hochzeit zwischen Ihnen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher