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Der Patient

Titel: Der Patient
Autoren: John Katzenbach
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New-Hampshire-Führerschein, der in einem halben Jahr ablaufen würde, und überlegte, ob es vielleicht das Klügste war, vor seiner Rückkehr auf die Inseln fiktiv nach Miami umzuziehen.
    Er brauchte etwa anderthalb Stunden, bis er bei mäßigem Verkehr Greenwich, Connecticut, erreichte, und er stellte fest, dass die Wegbeschreibung, die er aus dem Internet hatte, bis auf die Zehntelmeile richtig war. Das amüsierte ihn, da es nach seiner Erfahrung im Leben niemals so präzise zuging.
    Zwischendurch hielt er in der Innenstadt und kaufte in einem Feinkostgeschäft eine teure Flasche Wein. Dann fuhr er zu einem Haus in einer Straße, die nach den überzogenen Maßstäben einer der reichsten Kommunen im ganzen Land eher bescheiden war. Die Häuser waren einfach nur protzig, nicht obszön. Diese zweite Kategorie war ein paar Blocks weiter zu finden.
    Er parkte gleich vorn auf der Einfahrt zu einem Haus im Pseudo-Tudor-Stil. Hinter dem Haus befand sich ein Swimmingpool und davor eine große Eiche, die noch nicht in Blüte stand. Die Sonne war Mitte März noch nicht kräftig genug, auch wenn sie, so wie sie durch die Zweige sickerte, einige Hoffnung darauf machte, dass die dürren Tage bald ein Ende hatten. Eine unbeständige Jahreszeit, stellte er immer wieder fest.
    Die Flasche Wein in der Hand, klingelte er an der Tür.
    Eine junge Frau, höchstens Anfang dreißig, machte auf. Sie trug Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover und hatte ihr dunkelblondes Haar aus dem Gesicht gekämmt, so dass ihre Augen mit kleinen Fältchen an den Winkeln, die ebenso wie die um den Mund wohl von Erschöpfung zeugten, deutlich zu sehen waren. Ihre Stimme dagegen war weich und einladend, und sie begrüßte ihn, während sie die Tür weit öffnete, fast im Flüsterton. Er wollte etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor. »Psssst, bitte! Ich hab die Zwillinge gerade fürs Mittagsschläfchen hingelegt …«
    Ricky erwiderte ihr Lächeln. »Die halten Sie sicher ganz schön auf Trab«, sagte er in durchaus freundlichem Ton.
    »Sie machen sich keine Vorstellung«, erwiderte die junge Frau, immer noch sehr leise. »Und wie kann ich Ihnen helfen?«
    Ricky hielt ihr die Flasche entgegen. »Sie erinnern sich nicht an mich?«, fragte er. Natürlich war das eine Finte. Sie waren sich noch nie begegnet. »Bei dieser Cocktailparty mit den Partnern Ihres Mannes, vor rund einem halben Jahr?«
    Die junge Frau sah ihn eingehend an. Er wusste, dass die Antwort nur nein lauten konnte, dass sie sich unmöglich erinnern konnte, doch sie hatte eine bessere Kinderstube als ihr Mann, und so antwortete sie, »Ach so, natürlich, Mr. …«
    »Doktor«, sagte Ricky. »Aber nennen Sie mich Ricky.« Er schüttelte ihr die Hand und reichte ihr dann die Flasche Wein.
    »Die schulde ich Ihrem Mann«, sagte er. »Wir hatten vor einem Jahr oder so geschäftlich miteinander zu tun, und ich wollte mich nur bei ihm bedanken und ihn an den erfolgreichen Ausgang des Falls erinnern.«
    Ein wenig perplex, nahm sie die Flasche entgegen. »Also, dann vielen Dank, Doktor …«
    »Ricky«, sagte er. »Er wird sich schon erinnern.«
    Dann drehte er sich um und ging mit einem fröhlichen Winken die Einfahrt zurück zu seinem Wagen. Er hatte genug gesehen und genug erfahren. Ein angenehmes Leben, in dem sich Merlin da mit seiner Familie eingerichtet hatte, ein vielversprechendes dazu, mit rosigen Zukunftsaussichten. Doch heute Abend stand Merlin eine schlaflose Nacht bevor, nachdem er den Korken gezogen hatte. Ricky wusste, dass der Wein bitter schmecken würde. Das kam von der Angst.
    Er dachte daran, auch Virgil einen Besuch abzustatten, begnügte sich jedoch damit, ihr durch ein Blumengeschäft ein Dutzend Lilien an das Filmset zu schicken, wo sie eine bescheidene, doch nicht unwichtige Rolle in einem teuren Hollywood-Streifen ergattert hatte. Es war eine gute Rolle, hatte er sich sagen lassen, und wenn sie darin glänzte, ein Sprungbrett zu bedeutend größeren und besseren, auch wenn er bezweifelte, dass sie jemals eine interessantere Figur spielen würde als Virgil. Weiße Lilien waren perfekt. Man schickte sie gewöhnlich zu einer Beerdigung – mit einer Kondolenzkarte, auf der man sein tief empfundenes Beileid bekundete. Er ging davon aus, dass sie das wusste. Er ließ die Blumen mit einer schwarzen Satinschleife binden und fügte ein Kärtchen bei, auf dem nur stand,
     
    Denke immer noch an Sie.
Gez. Dr. S.
     
    Er war, dachte er, zu einem Mann geworden, der wenig Worte
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