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Der Patient

Titel: Der Patient
Autoren: John Katzenbach
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suchte nach seiner Brille. Er raffte sich auf und leerte einen Krug Wasser, der auf einem wackeligen Holztisch stand, in eine kleine Schüssel. Nachdem er sich das Gesicht nass gespritzt hatte, ließ er sich etwas Wasser über den Oberkörper laufen,nahm einen fadenscheinigen Waschlappen und rieb ihn mit einem Stück penetrant riechender Seife, die auf dem Tischchen lag, ein. Den Lappen tunkte er ins Wasser und wusch sich, so gut es ging.
    Das Zimmer, das Ricky bewohnte, war fast quadratisch und mehr oder weniger kahl, mit einem ursprünglich strahlend weißen Putz an den Wänden, deren Farbe sich aber im Lauf der Jahre an den Dreck auf der Straße draußen angeglichen hatte. Seine Habseligkeiten waren spärlich: ein Radio, das auf den Sendern für die amerikanischen Streitkräfte über die Trainingsspiele im Frühjahr berichtete, des weiteren ein wenig Kleidung. Einen aktuellen Kalender, den eine barbusige junge Frau mit einem einladenden Lächeln zierte; der angehende Tag war mit einem schwarzen Kreis markiert. Der Kalender hing an einem Haken nicht weit von einem Kruzifix, das, wie er vermutete, dem früheren Bewohner gehörte, das er aber nicht abgenommen hatte, da ihm ein Instinkt sagte, dass in einem Land, in dem die Religion für so viele Menschen auf so widersprüchliche, sonderbare Weise eine zentrale Rolle spielt, das Entfernen einer religiösen Ikone Unheil bringen musste und er es bislang alles in allem gar nicht schlecht getroffen hatte. An einer Wand hatte er zwei Bücherregale angebracht, in denen sich eine Reihe abgewetzter, vielgelesener Texte über Medizin drängte, unter die sich auch ein paar neue Abhandlungen mischten. Die Titel reichten von praktischen Themen wie Tropenkrankheiten und ihrer Behandlung bis zu eher esoterischen wie Fallstudien zu Krankheitsmustern psychischer Störungen in Entwicklungsländern.
    Darüber hinaus besaß er ein dickes, kunstledergebundenes Notizbuch und ein paar Stifte, mit deren Hilfe er sich Anmerkungen zu Patienten und Behandlungsplänen machte und die neben einem Laptop und einem Drucker auf seinem Schreibtischlagen. Über dem Drucker hing eine handschriftliche Liste mit pharmazeutischen Großhändlern im südlichen Florida. Darüber hinaus hatte er einen kleinen Matchbeutel aus schwarzem Segeltuch, der für eine zwei- bis dreitägige Reise genügte und in den er ein paar Sachen gepackt hatte. Ricky sah sich im Zimmer um und stellte fest, dass es wahrhaftig nicht viel war, aber zu seiner Stimmung und seinem Selbstverständnis passte, und obwohl er davon ausging, dass er ohne weiteres in eine deutlich komfortablere Unterkunft wechseln konnte, war er nicht sicher, ob ihm danach sein würde, selbst wenn er die Dinge erledigt hatte, die ihn für den Rest der Woche beschäftigen würden.
    Er ging zum Fenster und starrte auf die Straße. Es war nur ein halber Häuserblock bis zur Klinik, und schon jetzt konnte er eine Menschentraube am Eingang sehen. Gegenüber befand sich ein kleiner Lebensmittelladen, wo der Eigentümer und seine Frau – zwei über ihre Verhältnisse großzügige Leute im mittleren Alter – gerade dabei waren, ein paar Holzkisten und Fässer mit frischem Obst und Gemüse aufzustellen. Gleichzeitig brühten sie sich gerade Kaffee auf, und der Duft stieg ihm mehr oder weniger in dem Moment in die Nase, als die Frau des Ladenbesitzers sich umdrehte und ihn im Fenster stehen sah. Sie winkte fröhlich und zeigte einladend auf den Kaffee, der über einem offenen Feuer siedete. Er hielt ein paar Finger hoch, um ihr zu sagen, er käme gleich, und sie machte sich wieder an die Arbeit. Die Straße füllte sich bereits mit Menschen, und Ricky schätzte, dass es in der Klinik viel Arbeit geben würde. Für Anfang März herrschte schon jetzt eine eigentümliche Hitze, in die sich ein zarter Duft von Bougainvilleen und Früchten mischte, dazu alle möglichen menschlichen Gerüche. Kaum zog der Tag herauf, kletterten die Temperaturen.
    Er sah zu den Bergen hinüber, an deren Hängen sich sattes, fröhliches Grün mit kargem Braun abwechselte. Sie ragten steil über die Stadt, und ihm kam der Gedanke, dass Haiti wohl zu den faszinierendsten Ländern der Erde zählte. Es war die ärmlichste Gegend, die er je gesehen hatte, doch zugleich von unvergleichlicher Würde. Er wusste, dass er, sobald er auf die Straße trat und zur Klinik lief, das einzige weiße Gesicht im Umkreis von Meilen sein würde. Früher einmal hätte ihn das vielleicht gestört, doch das war
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