Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Patient

Titel: Der Patient
Autoren: John Katzenbach
Vom Netzwerk:
schnaubte laut vernehmlich. »Der Typ, der gerade gekommen ist, interessiert Sie sowieso viel mehr als ich, hab ich recht?«, sagte er bitter. Dann schwang er seine Füße von der Couch und sah zu seinem Therapeuten auf. »Ich mag es nicht, wenn etwas anders ist«, sagte er in schneidendem Ton. »Ganz und gar nicht.« Im Aufstehen schleuderte er dem Arzt einen vielsagenden Blick entgegen, lockerte die Schultern und verzog bösartig das Gesicht.»Es sollte immer gleich sein. Ich komm rein, leg mich hin, fang zu reden an. Grundsätzlich als letzter Patient. So sollte es sein. Keiner mag Veränderungen.« Er seufzte, allerdings nicht resigniert, sondern ziemlich wütend. »Na schön, also bis morgen. Letzte Sitzung, bevor Sie nach Paris, Cape Cod oder zum Mars abhauen und mich im verdammten Regen stehen lassen.« Zimmerman machte abrupt auf dem Absatz kehrt, schritt zielstrebig durch die kleine Praxis und zur Tür hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
    Einen Moment lang blieb er in seinem Sessel sitzen und lauschte auf die Schritte des erbosten Mannes draußen im Flur. Dann stand er auf – nach dem stundenlangen Sitzen hinter der Couch spürte er ein wenig die Last seines fortgeschrittenen Alters in den verspannten Muskeln und steifen Gliedern – ging zu der zweiten Tür, die in sein bescheidenes Wartezimmer führte. In mancherlei Hinsicht war der ungewöhnliche Zuschnitt dieses Raums, in dem er vor Jahrzehnten seine Praxis eingerichtet hatte, einmalig und auch der einzige Grund, weshalb er kurz nach seiner Zeit als Assistenzarzt diese Wohnung gemietet hatte und seit über einem Vierteljahrhundert geblieben war.
    Das Sprechzimmer verfügte über drei Türen: eine zur Eingangsdiele, in der er sein winziges Wartezimmer eingerichtet hatte; eine zweite, die direkt auf den Hausflur führte; und eine dritte in den Wohnbereich mit kleiner Küche und anschließendem Schlafzimmer, dem restlichen Teil der Wohnung. Sein Sprechzimmer war somit wie eine private Insel, mit Zugängen zu den übrigen Welten. Oft betrachtete er sie als eine Art Anderwelt, eine Brücke zwischen verschiedenen Realitäten. So gefiel es ihm, denn er war der Überzeugung, dass die Abschottung der Praxis von der Welt da draußen ihm seine Arbeit irgendwie erleichterte.
    Er hatte keine Ahnung, welcher seiner Patienten ohne Termin zurückgekommen sein könnte. Auf Anhieb fiel ihm kein einziger derartiger Fall in seiner ganzen Laufbahn ein.
    Genauso wenig konnte er sich vorstellen, welcher Patient womöglich in einer Krise steckte, die ihn zu einem solch drastischen Schritt in der Beziehung zu seinem Therapeuten hätte treiben können. Er vertraute auf Routine, Routine und Langlebigkeit, auf das Gewicht der Worte, die im Allerheiligsten der Praxis am Ende einen Weg zur Erkenntnis bahnten. Da hatte Zimmerman recht. Veränderung ging nicht nur ihm gegen den Strich.
    Und so durchquerte er in gespannter Erwartung zügig den Raum, auch wenn ihn der Gedanke, etwas Dringliches könnte die allzu eingefahrenen Gleise seines Lebens erschüttern, zugleich ein wenig irritierte.
    Er öffnete die Tür zum Wartezimmer und starrte hinein.
    Der Raum war leer.
    Einen Augenblick lang war er verwirrt und dachte, er hätte sich das Klingeln vielleicht nur eingebildet, doch dann wurde ihm bewusst, dass Mr. Zimmerman es ebenfalls gehört und aus dem dreimaligen Schellen geschlossen hatte, dass jemand Bekanntes im Wartezimmer war.
    »Hallo?«, sagte er, obwohl ganz offensichtlich niemand da war, der ihn hätte hören können.
    Er spürte, wie sich seine Stirn in Falten legte, und rückte sich die Nickelbrille auf der Nase zurecht. »Seltsam«, sagte er laut. In dem Moment bemerkte er den Briefumschlag auf dem Sitz des einzigen Stuhls, den er für Patienten bereit hielt, die warteten, bis sie an der Reihe waren. Er atmete langsam aus, schüttelte ein paarmal den Kopf und fand, dass dies hier doch allzu melodramatisch war, selbst für seinen derzeitigen Patientenstamm.
    Er ging hin und nahm den Brief, auf dessen Vorderseite in Druckschrift sein Name stand.
    »Wie sonderbar«, sagte er laut. Er zögerte, bevor er den Umschlag öffnete, und hielt ihn sich dann so wie Johnny Carson bei seiner Nummer als Carnac der Großartige an die Stirn, während er zu raten versuchte, welcher seiner Patienten ihn hinterlassen hatte. Doch zu keinem der ungefähr ein Dutzend Menschen schien ein solcher Schritt zu passen. Sie alle genossen es, ihm ihre Beschwerden über seine vielen Fehler und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher