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Der Patient

Titel: Der Patient
Autoren: John Katzenbach
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erkennen, dass er dazu nicht in der Lage war. Ricky ging mit sich selbst ins Gericht: Nur weil dir etwas Unbehagen bereitet, darfst du es noch lange nicht ignorieren.
    Andererseits kam ihm keine vernünftige Idee, wie er reagieren sollte. Er blieb stehen und kehrte dann zu seinem Stuhl zurück. Wahnsinn, dachte er, Wahnsinn allerdings, der Methode hat, da er mich zwingt, darauf einzugehen.
    »Ich sollte die Polizei einschalten«, sagte er laut. Dann überlegte er. Und was soll ich sagen? Neun, eins, eins wählen undirgendeinem begriffsstutzigen, einfallslosen Bürohengst erklären, dass ich soeben einen Drohbrief erhalten habe? Und mir anhören, wie der Mann sagt,
Na und?
Seines Wissens lag bislang keine Gesetzesübertretung vor. Es sei denn, es verstieße schon gegen das Gesetz, jemandem Selbstmord nahezulegen. Nötigung? Um was für eine Art Mord könnte es sich handeln?, überlegte er. Ihm kam in den Sinn, einen Anwalt anzurufen, dann wiederum wurde ihm klar, dass die Situa tion, in die Rumpelstilzchen ihn stürzte, kein juristisches Problem darstellte. Er war auf dem Gebiet herausgefordert, das er kannte. Es ging, so war dem Brief zu entnehmen, um ein Spiel der Intuition und der Psychologie; es ging um Emotionen und Ängste.
    Er schüttelte den Kopf und sagte sich: In der Arena kann ich mich behaupten.
    »Was weißt du bereits?«, fragte er laut in das leere Zimmer hinein.
    Jemand kennt meine Gewohnheiten. Weiß, wie ich die Patienten in die Praxis lasse. Weiß, wann ich Mittagspause mache. Was ich am Wochenende unternehme. War auch clever genug, um eine Liste mit Verwandten aufzustellen. Dazu gehört schon einiges an Findigkeit.
    Weiß, wann ich Geburtstag habe.
    Erneut zog er heftig den Atem ein.
    Jemand hat mich beschattet, ohne dass ich es bemerkt habe. Mich taxiert. Jemand hat eine Menge Zeit und Mühe darauf verwandt, dieses Spiel in Szene zu setzen, und mir nicht viel Zeit für meine Gegenzüge eingeräumt.
    Seine Zunge blieb trocken und seine Lippen ausgedörrt. Er hatte auf einmal großen Durst, aber keine Lust, das Refugium seiner Praxis zu verlassen, um sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen.
    »Was habe ich getan, dass mich jemand so sehr hasst?«, fragte er.
    Diese Frage saß wie ein Tiefschlag in der Magengrube. Ricky räumte ein, dass er die arrogante Auffassung vieler Menschen in betreuerischen Berufen teilte, er habe in seinem bescheidenen Rahmen – indem er die Menschen verstand und so akzeptierte, wie sie waren – Gutes getan. Die Vorstellung, dass er bei irgendjemandem irgendwo einen monströsen Hass entfacht haben könnte, war äußerst irritierend.
    »Wer bist du?«, forderte er Aufschluss von dem Brief. Augenblicklich begann er, den Katalog der Patienten durchzuhecheln, die er über die Jahrzehnte behandelt hatte, hielt aber ebenso schnell inne. Er verstand zwar, dass dies früher oder später nötig sein würde, dann allerdings systematisch, diszipliniert und beharrlich, und dazu war er noch nicht bereit.
    Zuerst einmal hielt sich Ricky nicht für besonders geeignet, seinen eigenen Polizeischutz zu übernehmen. Dann aber schüttelte er den Kopf, denn er erkannte, dass das in gewisser Hinsicht vielleicht nicht stimmte. Seit Jahren war er eine Art Detektiv gewesen. Der Unterschied lag genau genommen nur in der Art der Verbrechen, die er untersuchte, und in den Methoden, die er zum Einsatz brachte. Von diesem Gedanken ein wenig gestärkt, setzte sich Ricky Starks wieder an seinen Tisch, griff in die rechte obere Schublade und zog ein altes, ledergebundenes Adressbuch heraus, das an den Ecken völlig zerfleddert war und nur noch von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Fangen wir am besten damit an, den Verwandten zu ermitteln, mit dem diese Person schon Kontakt aufgenommen hat. Es muss sich um einen ehemaligen Patienten handeln, folgerte er weiterhin, einen, der seine Analyse vorzeitig abgebrochen hat und in die Depression verfallen ist. Jemanden, der schon seit Jahren eine nahezu psychotischeFixierung mit sich herumschleppt. Er hoffte, dass er, mit ein bisschen Glück und vielleicht dem einen oder anderen Hinweis von demjenigen Verwandten, dem der Kontakt galt, den erbosten ehemaligen Patienten ausfindig machen konnte. Er versuchte, sich mit allem Nachdruck einzuschärfen, dass der Briefschreiber – Rumpelstilzchen – in Wahrheit einen Hilfeschrei an ihn gerichtet hatte. Doch genauso schnell, wie dieser Wischiwaschi-Gedanke aufkam, ließ er ihn wieder fallen. Das Adressbuch in
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