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Der Palast

Der Palast

Titel: Der Palast
Autoren: Rowland
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Gestalten und blitzenden Klingen wand jemand ihr das Schwert aus der Hand und zerrte sie herum, sodass sie rücklings auf die Straße stürzte. Noch immer wehrte Reiko sich verbissen, doch mehrere Maskierte knieten sich auf ihre Arme und Beine und hielten sie mit ihrem Gewicht am Boden. Derbe Hände rissen Reikos verborgenen Dolch fort und fesselten sie mit Hanfstricken an Händen und Füßen. Ein paar Schritte entfernt sah Reiko auch Midori, Keisho-in und Fürstin Yanagisawa gefesselt am Boden liegen. Bitterkeit überkam sie. Wenn sie wenigstens die Freundinnen hätte retten können!
    »Wer seid ihr?«, wollte sie von einem der Maskierten wissen. »Warum tut ihr uns das an?«
    Keine Antwort. Erst jetzt wurde Reiko klar, dass diese Männer noch kein einziges Wort gesprochen hatten, und dieses Unheil verkündende Schweigen machte ihr Entsetzen umso größer. Jemand presste die Hände auf Reikos Schläfen und hielt ihren Kopf fest. Dann beugt einer der Maskierten sich über sie und versuchte, ihr eine kleine Trinkflasche zwischen die Lippen zu zwängen. Reiko schmeckte bitteres, flüssiges Opium. Sie presste die Lippen zusammen und wehrte sich mit aller verbliebenen Kraft. Doch sie hörte die anderen Frauen husten und schlucken, und schließlich gelang es auch Reikos Peinigern, ihre Kiefer auseinander zu zwingen und ihr den Inhalt des Fläschchens einzuflößen.
    Die bittere Flüssigkeit rann ihr die Kehle hinunter, während derbe Hände ihr eine schwarze Kapuze über den Kopf zerrten. Dunkelheit umhüllte sie, doch immer noch wand sie sich, wollte sich nicht geschlagen geben.
    Dann aber wurden die Geräusche leiser und der Schmerz, den das kratzige Seil auf ihrer Haut verursachte, ließ nach. Tiefe Müdigkeit überkam Reiko. Furcht und Entsetzen fielen von ihr ab, und ihre letzte Gegenwehr erlahmte. Sie fühlte, wie ihr Körper von unsichtbaren Händen emporgehoben und davongetragen wurde. Bilder von Sano und Masahiro erschienen in ihrem umnebelten Verstand, verschwanden jedoch, als undurchdringliche Schwärze ihren Geist umhüllte. Die letzte Empfindung Reikos, bevor sie das Bewusstsein verlor, war die unstillbare Sehnsucht nach ihrer Familie.

3.
    V
    erzeiht, sōsakan-sama, aber Ihr müsst sofort aufstehen.« Doch Sano, dessen geschärfte Sinne sogar im Schlaf hellwach blieben, hatte die Augen schon aufgeschlagen, bevor Hiratas Stimme von der Tür aus erklang. In Sanos Schlafgemach war es dunkel, doch der Flur wurde vom Licht der Laterne erhellt, die Hirata bei sich trug, und Sano sah den dunklen Schatten seines obersten Gefolgsmannes durch die papierene Wand. Unwillkürlich steckte er die Hand nach Reiko aus, bis ihm aufs Neue klar wurde, dass sie fort war – ein Gedanke, an den er sich auch nach fünf Tagen nicht gewöhnt hatte.
    Sano setzte sich unter dem dünnen Laken auf, das seinen nackten Körper bedeckte.
    »Komm herein, Hirata -san «, sagte er. »Was ist?«
    Hirata betrat Sanos Gemach. »Ein Bote hat soeben die Nachricht gebracht, dass der Shōgun uns in seinem Palast erwartet«, sagte er.
    »Um was geht es?« Sano gähnte und rieb sich die Augen.
    »Das wusste der Bote nicht.«
    Sano blickte kurz zum offenen Fenster. Aus dem Garten wehte eine warme Brise ins Zimmer. Über den Wipfeln der Fichten schwebte der Mond am schwarzen Himmel und übergoss die Bäume, Sträucher und Rasenflächen mit silbernem Licht. Grillen zirpten, und Leuchtkäfer schwebten durch die Luft. Die Dunkelheit und Stille ließen erkennen, dass es tief in der Nacht war – weit nach Mitternacht, und noch lange vor dem Morgengrauen.
    »Dass der Shōgun uns um diese Zeit zu sich bestellt«, sagte Sano, »kann tatsächlich nur bedeuten, dass es um eine wichtige Sache geht.«
    Sano zog sich an und verließ mit Hirata sein Anwesen. Über stille Gassen und zwischen hohen Steinmauern hindurch – wobei sie sich immer wieder an Kontrollposten ausweisen mussten –, eilten sie zum Palast des Shōgun, dessen Fachwerkmauern und geschwungene Ziegeldächer im Mondlicht schimmerten.
    Im Großen Audienzsaal wurden sie bereits erwartet. Wachsoldaten standen an den Wänden des langen Raumes, dessen Fußboden in zwei unterschiedlich hohen Ebenen angelegt war. Auf der unteren Ebene kniete ein Samurai in einem blauen Waffenrock mit dem Wappen der Fernstraßen-Patrouille der Tokugawa. Auf der oberen Ebene knieten die Mitglieder des Ältesten Staatsrats, Japans höchste Regierungsbehörde, die sich aus den fünf wichtigsten Ratgebern des Shōgun
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