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Der Orksammler

Der Orksammler

Titel: Der Orksammler
Autoren: Jens Lossau , Jens Schumacher
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hallten durch die Weite der Halle, als die Arbeiter ihre Rampen an die geöffneten Türen der ersten Waggons andockten. Eine gezielte Handbewegung hier, ein knapper Befehl dort, dann ertönte das dumpfe Rumoren dampfgetriebener Motoren in den Wänden. Ruckend zunächst, dann gleichmäßiger setzten sich breite Lederbänder in Bewegung. Über Hunderte winziger Rollen glitten sie auf der Oberseite der Rampen vom Zug fort, in Richtung der Hallentore, und auf der Unterseite wieder zurück.
    Mit der Routine ungezählter Einsätze bezogen die Männer ihre Positionen und begannen mit dem Entladen. Augenblicke später prallten die ersten kalten Leiber auf die Fließbänder, um ihre letzte Reise anzutreten – in die Brennkammer der Ewigen Flamme, die nichts von ihnen übriglassen würden als feine graue Asche.
    Unbemerkt von den Arbeitern, die mit gleichförmigen Bewegungen Leichname von Stapeln zerrten und sie wie Getreidesäcke auf die harten Transportbänder fallen ließen, öffnete sich ganz vorne, an der gewaltigen Zugmaschine mit ihrem turmhoch aufragenden Dampfkessel, eine Tür. Eine schlanke, blasshäutige Gestalt erschien in der Öffnung, ein Knabe von dreizehn, allenfalls vierzehn Jahren. Kritisch maß er den Abstand zum Boden, der weder von Stufen noch Leitersprossen überbrückt wurde, packte seine beiden Gepäckstücke fester und sprang.
    Mit einem gepressten Fluch landete er auf dem unebenen Pflaster des Bahnsteigs und kam stolpernd zum Stehen. Umwallt von aufgewirbelten Schwaden grauen Dampfes setzte er eine lederne Reisetasche sowie einen kleinen, rechteckigen Koffer aus weißem Blech neben sich ab und richtete mit ungeduldigen Bewegungen seine Kleidung. Er fegte sich eine widerspenstige Tolle weißblonden Haars aus der Stirn und sah sich um.
    Auf allen Fließbändern rollten mittlerweile Leichen dahin, dicht an dicht, hinein in die Mäuler der Wände. Nur etwa jeder Zweite war in einen Sack aus hellem Leinen eingenäht, ein Indiz dafür, dass er oder sie aus einer der wohlhabenden, zivilisierten Regionen Sdooms kam. Der Rest steckte in knielangen Totenhemden, manche Leichname trugen auch die Gewänder, in denen sie gestorben waren; viele waren schlicht nackt. Je spärlicher ihre Kleidung, desto deutlicher war die Ursache ihres Ablebens zu erkennen: ein gebrochenes Rückgrat hier, ein von Schwindsucht gezeichneter, skeletthafter Leib dort. Dazwischen grau gewandete Arbeiter, die mit stoischem Gleichmut Leib um Leib auf die Bänder schaufelten.
    Der Knabe wurde aus seinen Betrachtungen gerissen, als sich unversehens ein feiner Nebel glitzernder Feuchtigkeit von oben auf ihn herabsenkte. Er hob den Blick. Im selben Moment, da ihm der stechende Duft thaumaturgisch behandelter Nermoveilchen in die Nase stieg, entdeckte er die Düsen an der Decke hoch über sich.
    Mit gerümpfter Nase wischte er den dünnen Film von Stirn und Wangen. So wenig angenehm der künstliche Duft war, der Grund für das Versprühen der Lösung lag auf der Hand: Der Torrlem-Express lief jeden öffentlichen Sammelpunkt in Sdoom nur einmal je Zenit an. Es konnte also passieren, dass ein Leichnam bis zu neun Tage warten musste, bevor er verladen und abtransportiert wurde. Zwar war gesetzlich vorgeschrieben, dass die Betreiber der Leichenhäuser eine thaumaturgische Stasis über jeden eingelieferten Körper wirken mussten, ebenso wie die Laderäume des Zuges ständig unter dem Einfluss eines solchen Unveränderlichkeitsspruches standen. Doch wo Menschen wirkten, wurden Fehler gemacht. Um eine allzu starke Geruchsbelästigung der Arbeiterschaft zu vermeiden, sobald diese die unterschiedlich gut erhaltenen Toten aus ihrer thaumaturgischen Konservierung riss, wurden daher beim Einlaufen des Zuges Stoffe versprüht, die Gestank und bakterielle Belastung minimieren sollten.
    Rasch ließ der Nieselregen nach. Der weißhäutige Junge nahm seine Gepäckstücke auf und begann, nach einem Ausgang aus der riesigen Halle zu suchen. Er passierte die Förderbänder, ohne die Toten darauf eines Blickes zu würdigen, trat durch eine Schwingtür in eine leere Vorhalle und von dort durch ein schweres eisernes Portal ins Freie.
    Es war spät am Abend, der Platz vor dem Bahnhof lag im Dunkeln – soweit diese Bezeichnung für eine Stadt wie Torrlem zulässig war. Schmucklose zylindrische Gaslampen auf hohen Masten säumten die abgehenden Straßen, darüber glomm der Himmel im unirdischen Widerschein der Ewigen Flamme, der größten thaumaturgischen Apparatur, die
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