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Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Titel: Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)
Autoren: Don DeLillo
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sich aus der Wand schälte.
    »Sind Sie sicher, dass das keine Komödie ist?«, fragte sie. »Ich meine, gucken Sie mal.«
    Sie sah das hohe unheimliche Haus, das über dem flachen Motel aufragte, das Haus mit Türmchen, wo Mutter manchmal am Schlafzimmerfenster sitzt und wo Norman Bates das Höllengewand der Travestie anlegt.
    Er dachte darüber nach, über Norman Bates und Mutter.
    Er sagte: »Können Sie sich vorstellen, ein anderes Leben zu leben?«
    »Das ist zu einfach. Fragen Sie mich was anderes.«
    Aber was anderes fiel ihm nicht ein. Er wollte den Gedanken abtun, dass der Film womöglich eine Komödie wäre. Sah sie etwas, das ihm entgangen war? Enthüllte der langsame Takt der Vorführung einem Menschen etwas, das er einem anderen verbarg? Sie sahen, wie die Schwester und der Liebhaber mit dem Sheriff und der Frau redeten. Er fragte sich, ob er das Gespräch wohl in Richtung Abendessen steuern könnte, auch wenn es im Augenblick gar kein Gespräch gab.
    Vielleicht könnten wir in der Nähe eine Kleinigkeit essen, würde er sagen.
    Ich weiß nicht, würde sie sagen. Ich muss wahrscheinlich in einer halben Stunde wo sein.
    Er stellte sich vor, wie er sich umdrehte und sie an die Wand drückte, der Raum ganz leer bis auf den Aufseher, der strikt vor sich hin starrt, ins Nichts, reglos, der Film weiterlaufend, die Frau an der Wand, ebenso reglos, den Film über seine Schulter sehend. Museumsaufseher sollten Handfeuerwaffen tragen, dachte er. Unbezahlbare Kunst ist zu sichern, und ein bewaffneter Mann würde den Akt des Sehens verdeutlichen, davon hätte jeder im Raum etwas.
    »Gut«, sagte sie, »ich muss jetzt los.«
    Er sagte: »Sie gehen.«
    Es war eine nüchterne Feststellung, Sie gehen, nachdenklich gesprochen, frei von Enttäuschung. Er hatte keine Zeit gehabt, Enttäuschung zu empfinden. Er sah grundlos auf seine Armbanduhr. Besser irgendwas tun, als dumm herumstehen. Theoretisch gab es ihm Zeit nachzudenken. Sie strebte schon zur Tür, und er hastete hinter ihr her, aber leise, Augen abgewandt von möglichen Beobachtern. Die Tür glitt auf, und er war hinter ihr, hinaus ins Licht und auf die Rolltreppe, Stockwerk um Stockwerk, und dann durch das Foyer und die Drehtür auf die Straße.
    Er holte sie ein, sorgfältig jedes Lächeln, jede Berührung vermeidend, und sagte: »Wie wär’s, wir machen das mal in einem echten Film mit Sitzgelegenheiten und Leuten auf der Leinwand, die lachen und weinen und schreien?«
    Sie hielt inne, um zuzuhören, halb ihm zugewandt, mitten auf dem Bürgersteig, zwischen vorbeidrängenden Körpern.
    Sie sagte: »Wäre das besser?«
    »Wahrscheinlich nicht«, sagte er, und diesmal lächelte er. Dann sagte er: »Wollen Sie etwas über mich hören?«
    Sie zuckte die Achseln.
    »Als Kind habe ich immer im Kopf multipliziert. Eine sechsstellige Zahl mal eine fünfstellige Zahl. Achtstellig mal siebenstellig, Tag und Nacht. Ich war ein Pseudogenie.«
    Sie sagte: »Ich habe immer den Leuten von den Lippen abgelesen, was sie sagten. Ich beobachtete ihre Lippen und wusste, was sie sagten, bevor sie es sagten. Ich hörte nicht hin, ich sah nur hin. Darum ging es. Ich konnte den Klang ihrer Stimmen ausblenden, während sie sagten, was sie sagten.«
    »Als Kind.«
    »Als Kind«, sagte sie.
    Er sah sie direkt an.
    »Wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben, könnte ich Sie mal anrufen.«
    Sie zuckte die Achseln, okay. Das war die Bedeutung des Achselzuckens, okay, klar, vielleicht. Obwohl, wenn sie ihn in einer Stunde auf der Straße sehen würde, wüsste sie wahrscheinlich nicht mehr, wer er war oder wo sie ihm begegnet war. Sie sagte eilig die Nummer auf, dann drehte sie sich um und ging ostwärts in die Midtown-Flut hinein.
    Er betrat das Foyer voller Menschen und suchte sich eine enge Lücke auf einer der Bänke. Er senkte den Kopf, um nachzudenken, sich vor alldem wegzuducken, vor der ständigen Lautstärke der Stimmen, Sprachen, Akzente, vor Menschen in Bewegung, die Lärm mit sich trugen, Lebenszeiten voller Lärm, ein Getöse, das von den Wänden und der Decke abprallte, es war so laut und allumschließend, dass er sich hinkauern musste. Aber er hatte ihre Telefonnummer, darauf kam es an, er hatte die Nummer sicher im Kopf. Sie anrufen, wann, in zwei Tagen, drei Tagen. In der Zwischenzeit dasitzen und darüber nachdenken, was sie gesagt hatten, wie sie aussah, wo sie wohl wohnte, wie sie wohl ihre Zeit verbrachte.
    Und da ging ihm die Frage durch den Kopf. Hatte er sie nach ihrem
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