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Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)

Titel: Der Omega-Punkt: Roman (German Edition)
Autoren: Don DeLillo
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keiner kennt mehr den Namen des Opfers. Anthony Perkins ist Norman Bates, Janet Leigh ist Janet Leigh. Das Opfer muss den Namen der Schauspielerin tragen, die es spielt. Es ist Janet Leigh, die das abgelegene Motel betritt, das Motel von Norman Bates.
    Er hatte über drei Stunden da gestanden und geschaut. Dies war der fünfte Tag in Folge, an dem er hergekommen war, und der vorletzte, bevor die Installation beendet wurde und in eine andere Stadt ging oder irgendwo in einem obskuren Depot verschwand.
    Niemand, der hereinkam, schien zu wissen, was er zu erwarten hatte, und ganz sicher niemand erwartete das hier.
    Der Originalfilm war so verlangsamt worden, dass seine Laufzeit jetzt vierundzwanzig Stunden betrug. Was er hier sah, schien der reine Film zu sein, die reine Zeit. Das große Grauen des alten Horrorfilms wurde von der Zeit verschlungen. Wie lang würde er hier stehen müssen, wie viele Wochen oder Monate, bevor das Zeitschema des Films sein eigenes aufsog, oder hatte dieser Vorgang schon eingesetzt? Er trat näher an die Leinwand heran, etwa dreißig Zentimeter, und sah Stückwerk und ein bisschen Schnee, Wirbel zitternden Lichts. Er umrundete die Leinwand mehrere Male. Der Raum war jetzt leer, und er konnte sich in unterschiedlichem Winkel und Abstand zu ihr aufstellen. Er ging rückwärts, immer weiter die Leinwand fixierend. Er begriff absolut, warum der Film ohne Ton abgespielt wurde. Er musste stumm sein. Er musste den Einzelnen in einer Tiefe ergreifen, die weiter ging als die üblichen Annahmen, die Dinge, die der Einzelne so vermutet und voraussetzt und für selbstverständlich nimmt.
    Er ging zurück zu der Wand am Nordende, vorbei an dem Aufseher in der Tür. Der Aufseher war da, aber er zählte nicht als Anwesender. Der Aufseher war da, um ungesehen zu bleiben. Das war seine Aufgabe. Der Aufseher blickte auf den Rand der Leinwand, aber er schaute nirgendwo hin, schaute, wo immer Museumsaufseher hinschauen, wenn ein Raum leer vor ihnen liegt. Der Mann an der Wand war da, aber vielleicht zählte der Aufseher ihn ebenso wenig als Anwesenden wie umgekehrt. Der Mann war seit Tagen da, täglich lange Stunden, und außerdem stand er wieder an der Wand, im Dunkeln, reglos.
    Er beobachtete die Augen des Schauspielers auf ihrem langsamen Weg durch ihre knochigen Höhlen. Stellte er sich vor, mit den Augen des Schauspielers zu sehen? Oder war es, als suchten die Augen des Schauspielers nach ihm?
    Er wusste, er würde bleiben, bis das Museum schloss, in zweieinhalb Stunden, und dann am Morgen wiederkommen. Er beobachtete zwei Männer, die hereinkamen, der ältere mit Stock und einem Anzug, der aussah, als wäre er in ihm gereist, sein langes weißes Haar im Nacken zu einem Zopf geflochten, vielleicht ein emeritierter Professor, ein Filmwissenschaftler vielleicht, und der jüngere in Freizeithemd, Jeans und Laufschuhen, der Assistenzprofessor, schmal, etwas nervös. Sie bewegten sich jetzt von der Tür weg in das relative Dunkel entlang der angrenzenden Wand. Er beobachtete sie weiter, die beiden Akademiker, Adepten des Films, der Filmtheorie, der Filmsyntax, von Film und Mythos, der Dialektik des Films, der Metaphysik des Films, während Janet Leigh begann, sich für die bevorstehende bluttriefende Dusche zu entkleiden.
    Jede Muskelbewegung eines Schauspielers, jedes Blinzeln der Augen war eine Offenbarung. Jede Handlung wurde in Komponenten zerlegt, die sich so deutlich vom Gesamten unterschieden, dass der Betrachter sich von jeglicher Erwartung isoliert fühlte.
    Alle betrachteten irgendwas. Er betrachtete die beiden Männer, sie betrachteten die Leinwand, Anthony Perkins an seinem Guckloch betrachtete Janet Leigh beim Ausziehen.
    Niemand betrachtete ihn. Das war die ideale Welt, wie er sie sich im Geist ausgemalt haben könnte. Er hatte keine Vorstellung davon, wie er in den Augen der anderen aussehen mochte. Er war ja nicht einmal sicher, wie er in seinen eigenen Augen aussah. Er sah aus wie das, was seine Mutter sah, wenn sie ihn anschaute. Aber seine Mutter war gestorben. Das führte zu einer Frage für fortgeschrittene Studenten. Was war von ihm übrig, in den Augen der anderen?
    Zum ersten Mal machte es ihm nichts aus, hier nicht allein zu sein. Diese beiden Männer hatten gute Gründe, hier zu sein, und er fragte sich, ob sie sahen, was er sah. Selbst wenn, sie würden andere Schlüsse daraus ziehen, andere Bezüge in einem Spektrum aus Filmografien und Fachgebieten herstellen. Filmografie. Bei dem
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