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Der neunte Ton: Gedanken eines Getriebenen (German Edition)

Der neunte Ton: Gedanken eines Getriebenen (German Edition)

Titel: Der neunte Ton: Gedanken eines Getriebenen (German Edition)
Autoren: Peter Maffay
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setze ich mich heute auch nicht mehr auseinander. Mein Verhältnis ist ja nur zur Institution Kirche teilweise gestört, nicht zum lieben Gott. Ich glaube auch, dass Gott kein Problem mit Menschen hat, die aus der Kirche ausgetreten sind. Mit zunehmendem Alter stellt man sich Fragen, wie: Ist das eigentlich in Ordnung? Oder: Vor wem verantworte ich das? Ich kann nicht erklären, ob es Gott gibt, und schon gar nicht, in welcher Form, aber ich weiß, dass es gut ist, eine solche Instanz – nennen wir sie einmal »Gott« – zu akzeptieren. Die Kapelle ist auf jeden Fall ein Schutzraum, mein persönlicher Schutzraum. Diese Zwiesprache hat für mich eine große Bedeutung. Vor einigen Jahren habe ich meine Mutter zu mir geholt. Ihre Asche ist nun hier in der Kapelle. Vielleicht waren es auch einschneidende Erlebnisse, die mich wieder zu Gott zurückfinden ließen. Der Selbstmordversuch meiner Mutter, Trennungen, Freund schaften, die zu Bruch gegangen sind – das alles waren Anlässe, die mich sehr nachdenklich gemacht haben.
    Als mein Sohn Yaris sechs Jahre alt war, bin ich mit ihm auf Mallorca unterwegs gewesen. Wir hatten wieder einmal vor der Kapelle gestoppt, als er mich fragte: »Papa, wohnt da der liebe Gott?« Ich war baff und konnte ihm im ersten Augenblick keine Antwort geben. Dann habe ich zu ihm gesagt: »Geh rein. Schau nach.« Der kleine Mann tapste also in die Kapelle, guckte sich um und hat genauso reagiert wie eigentlich alle Menschen, die ein Gotteshaus betreten: Er setzte sich auf eine der Bänke und hielt inne. Vielleicht tut es uns gut, in einer Zeit der Schnelllebigkeit öfter einmal innezuhalten und zu sich zu kommen, als Reaktion auf die immer größer werdende Anonymisierung. Die sozialen Netzwerke haben uns längst im Griff, aber nicht jeder, der bei Facebook mehrere Hundert Freunde gespeichert hat, hat auch in der Realität wirkliche Anker. Trotz aller Vernetzung, die inzwischen gang und gäbe ist, ist der Einzelne heute letztendlich viel mehr auf sich selbst gestellt als früher.

Bild 4.: Die Kapelle mit dem Malteser Kreuz an der alten Wegstrecke nach Campanet

Für mich ganz persönlich ist Gottes wichtigstes Gebot das Prinzip der Nächstenliebe. Nächstenliebe … was für ein Wort – in dem eigentlich schon alles steckt! Den Nächsten lieben. Das setzt auch voraus, Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind, mit allen Fehlern und Schwächen. Leben und leben lassen steckt für mich dahinter und die Fähigkeit, etwas aus der Sicht des anderen zu sehen, Kompromisse zu schließen. Nächstenliebe, das Wort hat ein ungeheures Gewicht. Es setzt Toleranz voraus und die Erkenntnis, dass wir unabhängig von unserer Herkunft, unserem gesellschaftlichen Status, unserer Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung auf einem begrenzten Raum zusammenleben müssen. Toleranz beginnt im Kleinen, im täglichen Miteinander. Ich muss leider gestehen, dass ich rechthaberisch bin, jähzornig, ungeduldig und wahrscheinlich manchmal ungerecht. Streckenweise auch richtig unentspannt. Mein Team kann ein Lied davon singen … Der Druck, der auf jedem Einzelnen von uns lastet, Ehrgeiz und Eitelkeit, das sind Gegner der Toleranz. Sie sind aber leider auch unsere ständigen Begleiter. Die Balance im Alltag ist eine Kunst. Sie zu beherrschen, versuche ich noch immer. Andere Stufen nimmt man leichter. Soziales und politisches Verständnis, ausgerichtet an den Eckwerten unserer humanen Weltanschauung und unseres moralischen Empfindens, gelingt uns eher.
    Aber zurück zur Nächstenliebe: Der Begriff beschreibt Werte, die leider allzu oft auf der Strecke bleiben. Liebe ist ein großes Wort und um jemanden zu lieben, muss man sich ihm vertraut machen. Man muss ihn annehmen und sich ihm verpflichtet fühlen. Es ist ein Wahnsinn, dass in unserer globalisierten Welt noch immer Tag für Tag nach Schätzung der Vereinten Nationen fast 10.000 Kinder sterben. Sie sterben an den Folgen von Hunger, Krieg, Armut und sozialer Ungerechtigkeit. Wir können dank der neuen Medien in Sekundenschnelle in jeden Winkel der Erde blicken, aber angesichts dieser Katastrophe verschließen wir schon viel zu lange die Augen. Es macht mich rasend, wenn die Regierungen innerhalb von Tagen über Milliardenhilfe für bankrotte Staaten entscheiden können, es aber nicht schaffen, die seit Jahrzehnten bestehende Armut und Unterentwicklung zu bekämpfen. Kinder und Jugendliche sind immer dann interessant, wenn Politiker es wünschen. Wir brauchen hier ein
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