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Der neunte Ton: Gedanken eines Getriebenen (German Edition)

Der neunte Ton: Gedanken eines Getriebenen (German Edition)

Titel: Der neunte Ton: Gedanken eines Getriebenen (German Edition)
Autoren: Peter Maffay
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angenommen hätte, über deren Vorgehen man informiert worden wäre. Das gesamte System, die gesamte Diktatur war auf Unterdrückung gegründet.
    Als wir die Ausreise beantragten – ich war damals 14 Jahre alt –, wurde mein Vater auf einen Schlag arbeitslos. Ein Jahr lang lebten wir vom Verkauf der wenigen Dinge, die wir besaßen. Ein ganzes Jahr lang – recht viel länger hätten wir es auch nicht durchgestanden. Denn irgendwann war alles aufgebraucht, auch das Leintuch unterm Arsch weg … und dann kam Gott sei Dank endlich diese verdammte Ausreisebewilligung. Wie lange hatten wir darauf gewartet, auf diesen Augenblick! Wir hatten knapp 48 Stunden Zeit, und nach dieser Zeit mussten wir außer Landes sein. Die Ausreisegenehmigung war gekoppelt an die Bedingung, die rumänische Staatsbürgerschaft abzulegen und mit Valuta abzuzahlen. Wir mussten uns regelrecht »freikaufen«. Meine Großeltern sind für den Betrag aufgekommen. Anders hätten wir niemals einen Reisepass erhalten. Menschenhandel at its best!
    Und dann die Ausreise nach Deutschland … Endlich weg. Bis zum letzten Augenblick wussten wir nicht, ob nicht doch noch die Schergen des Geheimdienstes in die Maschine kommen und meinen Vater oder uns alle wieder herausholen würden. Ich glaube, meine Eltern haben das erste Mal richtig durchgeatmet, als wir die rumänische Grenze überflogen. Für uns alle war das eine extrem schwierige Zeit, denn es war eine Reise ins Ungewisse. Mit drei kleinen Koffern mussten wir uns eine neue Existenz in einem fremden Land aufbauen. Ich hatte vorher schon Deutsch gesprochen, weil ich die deutsche Schule besucht habe. Nur mein »R« war ein bisschen ausgeprägter …
    Ich habe der deutschen Gesellschaft viel zu verdanken, auch wenn die erste Zeit sicher sehr schwierig war. Plötzlich war ich ein Migrant. Dennoch fühlte ich mich nicht heimatlos, sondern für mich war sofort klar, dass ich hier heimisch werden könnte. Allerdings mache ich noch heute »Heimat« immer an Gefühlen und nicht an Orten fest. Ich fühle mich bei meiner Familie heimisch oder im Kreise guter Freunde. Natürlich mussten wir unser Deutschlandbild auch korrigieren. Aus gut 1000 Kilometern Entfernung hatten wir das Gefühl, wir erreichen das Schlaraffenland. Wir hatten die Illusion, hier hinge alles an den Bäumen und wir bräuchten es nur zu pflücken. Aber so war es natürlich nicht. Wenn man sich genügend streckte, kam man immerhin an einiges tatsächlich heran. In Rumänien hingegen konntest du dich strecken, soviel du wolltest, und du bist trotzdem nicht rangekommen. Das war der Unterschied.
    In Deutschland hatte ich dann auch zum ersten Mal ein eigenes Zimmer, zum ersten Mal einen Raum für mich. In Rumänien hatten wir alle zusammen in einem Zimmer gelebt, das war vielleicht 20 Quadratmeter groß. Da gab es einen Ofen, da standen die Betten und all das, was man zum Leben braucht. Eine Toilette oder gar ein Bad gab es nicht. Man musste über den Hof gehen. Im Winter mit den heftigen, teilweise meterhohen Schneeverwehungen war das ein ziemliches Abenteuer. Wer warmes Wasser haben wollte, musste es auf dem Ofen erwärmen. Das geschah – wenn überhaupt – zum Baden. Mein Vater war Büchsenmacher und hat eine Zeit lang den »feinen« Herrschaften in Bukarest die Jagdgewehre gerichtet. Mein Vater ist technisch unglaublich begabt. Er hat gleichzeitig als Automechaniker und technischer Zeichner gearbeitet. Im Krieg war er Pilot, er hat ein umfassendes technisches Wissen und zwei rechte Hände. Wenn ich mir heute seine Hände anschaue, dann denke ich mir oft: »Mit solchen Händen kommst du durchs Leben.« Er hat nie Angst gehabt vor Dreck. Mein Vater ist immer einer gewesen, der anpacken konnte, der sich für nichts zu fein war und der bis heute so denkt. Vor allem aber hat mein Vater sich immer für die Familie krumm gemacht. Meine Eltern haben oft gehungert, aber sie haben nie zugelassen, dass ich Hunger leiden musste.

Bild 2.: Das erste eigene Zimmer

Ich denke oft darüber nach, wie es meinen Eltern ergangen sein muss in den ersten Monaten in Deutschland. Sie hatten es sicher schwerer als ich, denn sie mussten eine komplett neue Existenz aufbauen – eine neue Existenz aus drei Koffern. Ich bedauere, dass ich mit meiner Mutter darüber zu wenig gesprochen habe; mit meinem Vater später mehrfach und ich bin dankbar, dass er sich vor einigen Jahren entschlossen hat, mich nach Rumänien zu begleiten. Es war bestimmt nicht leicht für ihn, aber es
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