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Der neue Daniel

Titel: Der neue Daniel
Autoren: Willy Seidel
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gekrochen wäre. Da gab es keine turmhohen Fichten, Väter eines Wäldchens etwa, segnend über kleinerem Gewimmel schwebend ... Nein, was sie sahen, war eine große Schonung, eine mathematisch abgezirkelte kompakte Masse von Jungholz, die in ihrer trostlosen Einförmigkeit tief bestürzte ...
    Ganz weit oben schien die Straße sich zu heben: ha! es gab dort etwas! Es gab dort die Erlösung! Mit halbem Seufzer bauten sie Schlösser vonHoffnung auf diesen fernen Hügel...! Die Straße war sandig. Bei jedem Schritt sank der Fuß zur Hälfte ein. Die Sonne, aus hellblauem Himmel, stach. Sie gingen tapfer vorwärts, beflügelt von der Sehnsucht nach dem Hügel.
    »Du wirst sehen,« meinte Erwin, »dort ändert sich das ganze Bild. Irgendwo muß doch die Landschaft stecken.« Er sah auf die Uhr, es war halb acht. Sie gingen und gingen.
    Mildred war verstummt. Das fröhliche Pläneschmieden, womit sie die morgendliche Frühstückszeit ausgefüllt, war versiegt. Sie blickte mit ihren grauen Augen streng in die Richtung des Hügels wie jemand, der ein Wunder erwartet, von dem er sich kaum eine baldige Erfüllung verspricht. So schritt sie vor ihm her, zäh mit ihren tapferen schlanken Beinen, und ihre weiße Gestalt auf der gelben funkelnden Fläche hatte etwas Einsames.
    Die Häuser waren zurückgetreten; das letzte lag bereits eine halbe Meile hinter ihnen. Und der Hügel? – Die ganze Zeit über war er von ihnen wie eine Fata morgana hinweggerückt; jetzt deutete sich eine gewisse Abwechslung an durch ein sehr weitläufig gebautes, beinahe prächtiges einstöckiges Haus, das aus einem Klumpen von Laubbäumen trat. Auf einmal, wie durch eine Laune der Akustik, schlug ihnen der entfesselte Strom desselben Hahnengebrülls entgegen, das ihren Morgentraum durchklungen. Ein mißfarbener, zottiger Hund stürzte hervor, in tiefstem Hasse bellend; blieb wie angenagelt, mit gespreiztenBeinen vor ihnen stehen und schritt dann, mit mürrischem Achselzucken gleichsam, zögernd zurück. Etwa fünfzig langgestreckte Kästen aus Fichtenholz wurden sichtbar, zwischen ihnen wimmelte es weiß durcheinander: Eine Hühnerfarm ...
    Zwar keine Zucht, wie man sie in Europa kennt, von drei oder vier Dutzend bunter, gemächlicher Hennen oder schläfrig umherprunkender Hähne: nein – es war eine Masse von weißen, mageren »Leghorns«, die nach Abertausenden zählten, und über denen ein stechend-süßlicher Geruch von hellgrünem Kot stand, der, von rohen Maiskörnern untermengt, wie eine Guanoschicht den Boden verpestete. In diesem Element wateten sie mit ihren gelben, eintönigen Beinen, ermüdend gleichförmig anzusehen, und pickten wie Maschinen, jedes denselben Fraß.
    »Sie sind im Kleinen« schoß es Erwin durch den Kopf –: »wie ein Bild der Bevölkerung hier. Sie waten in den Bodenschätzen umher; wenn eines eine Feder von abstechender Farbe besäße und damit kokettierte, es wäre seines Lebens nicht sicher. Nur dadurch, daß sie alle weiß sind und in Masse handeln und fressen, existieren sie. Ihre Eier müssen unsagbar fad schmecken...«
    Ein vierschrötiger Mann mit semmelblonden Stoppelhaaren und hervortretenden Augen erschien in der Entfernung mit einer Harke bewaffnet. Einen Moment schob er seinen breitrandigen Strohhut aus der Stirn und starrte mitwasserblauen Augen herüber. Dann, als Erwin ihm zurief: »Ein schöner Morgen, wie?« grunzte er etwas Unartikuliertes und begann die Ställe zu reinigen. Er begann mit Nr. I und war bereits bei Nr. 3, als sie weitergingen.
    »Wenn der Mann das jeden Morgen macht, vielmehr tagtäglich von morgens bis abends, muß er jede Menschenähnlichkeit verlieren,« dachte Erwin. »Aus diesem Nachbarn wird nicht viel herauszuholen sein.«
    Nach weiteren zehn Minuten schienen sie auf halber Höhe des Hügels zu sein. Da ereignete sich etwas Erstaunliches: die breite Straße hörte plötzlich auf.
    Sie war einfach wie weggeblasen, ganz und gar zu Ende.
    Das plötzliche Gefühl, in eine Sackgasse geraten zu sein, wirkte mehr als beklemmend. Es war, als ob die Fichten eine plötzliche Verschwörung eingingen, sie einzufangen und nicht mehr herauszulassen...
    Da, wie eine Erleichterung nach kurzem Asthma, öffnete sich ein kleiner Seitenpfad. Wie erlöst schritten sie darauf zu. Es hatte den Anschein, als ob er auf die Spitze des Hügels führen müsse. Sie stiegen. Sie sahen verstreuten weißen Schimmer, als ob dort ein Steinbruch sei. Auf einmal jedoch sprang ihnen die Bedeutung dieser Steine
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