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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition)
Autoren: Susanne Gerdom
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endlich, Bardh, mein alter Feind«, sagte
sie laut und stieß ihm das kleine Messer tief in den Hals.
    Er röchelte und riss ich los,
taumelte zurück. Seine Hände drückten die Wunde zusammen, die sie ihm zugefügt
hatte, und zwischen seinen Fingern sprudelte helles Blut hervor. Mit einem
heiseren Schrei verwandelte er sich in seine Wolfsgestalt; aus dem Schrei wurde
ein tiefes Knurren, und das blutbesudelte graue Fell sträubte sich über einem
langen, blutenden Riss, der das riesige Tier dennoch kaum zu behindern schien.
    Sarah richtete sich schnell
auf und stand da, eine Hand abwehrend vorgestreckt. Mit der anderen packte sie
das grüne Drachenauge und riss es mit einem Ruck von seinem Band ab. Sie
streckte den Stein hoch über den Kopf, und er schwoll zu seiner wahren Größe
an, bis er schwer und kalt ihre ganze Hand füllte. Grün und blau, silbern und
golden tanzten Funken in ihm, sprühten Lichtblitze durch das Gemach und warfen
ihre Farben über alles, was grau und tot war.
    »Halt, Bardh«, befahl Sarah
schneidend. Der Wolf hörte sie nicht, er raste vor Wut. Er duckte sich zum
Sprung, die starken Muskeln zogen sich unter seinem grauen Fell zusammen. Sie
wich einen Schritt zurück und trat auf etwas Weiches, das unter ihr wegrutschte
und ihren Fuß mitnahm. Mit einem Aufschrei fiel sie nach hinten, und im
gleichen Augenblick sprang der Wolf und war über ihr.
    Ohne darüber nachzudenken,
warf sie schützend die Arme vors Gesicht, um sich vor den schnappenden Zähnen
zu schützen. Etwas Kleines, Schwarzes schoss aus der Luft herab und stieß auf
den Wolf nieder. Sarah hörte den krächzenden Schrei und sah, wie der Rabe nach
den Augen des Nebelkönigs hackte.
    Die Bestie riss den Kopf herum
und packte den Raben, der hastig flatternd versuchte sich in Sicherheit zu
bringen. Sarah sah den Wolf zubeißen und schnellte mit einem lauten Befehl das
Drachenauge empor. Ein grellgrüner Blitz traf den Wolf, katapultierte ihn in
die Luft und schmetterte ihn gegen die Wand, wo er reglos liegen blieb.
    Die Katzenkönigin ließ das
Drachenauge aufleuchten. Sie sah sich suchend um. Bei ihrem Sturz hatte sie
sich den Knöchel verrenkt und fühlte sich genauso zerschlagen und müde wie ihr
jüngeres Ich und hätte viel dafür gegeben, sich einfach irgendwo zusammenrollen
und ausruhen zu können. Aber es war noch nicht vorbei.
    Humpelnd näherte sie sich dem
ausgestreckt daliegenden Wolf.
    Sie warf einen Blick auf die
zottige graue Bestie und ging in sicherem Abstand zu ihm weiter. Irgendwo hier
musste es sein, hier hatte sie ihn fallen sehen.
    Dann fand sie, wonach sie
suchte: Auf einer gesprungenen schwarzen Fliese lag ein stilles Bündel aus
Federn und Haut, aus dem eckig ein gebrochener Flügel ragte. Sarah sog scharf
die Luft ein und kniete neben dem Raben nieder. Sie beugte sich tief über ihn,
aber es schien kein Leben mehr in ihm zu sein. Sarah biss sich so fest auf die
Lippe, dass ein Tröpfchen Blut hervortrat. Dann legte sie sacht zwei Finger auf
den Vogelkörper, der ihr erschreckend kalt und starr erschien.
    »Sarah«, hörte sie eine Stimme
wispern. Sie beugte sich noch weiter hinab. Hatte sie sich das eingebildet?
    »Ja?«, fragte sie drängend und
begann zu weinen. »Sag etwas, bitte, sag etwas!«
    Der Rabe blieb stumm. Sarah
achtete nicht weiter auf die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen und auf
den Vogel hinabtropften. Sie grub in der Schürzentasche nach einer der Wolfszahnbeeren,
die inzwischen trocken und ein wenig schrumpelig geworden waren. Sie nahm sie
zwischen die Finger und drückte sie so fest, dass ein paar Tropfen blutroter
Saft herausquollen und mit ihren Tränen vermischt auf den Raben fielen. »Sei
wie zuvor«, rief sie so inständig wie ein Stoßgebet zu einem namenlosen Gott.
»Sei wie zuvor, mein Liebster, mein Herz, mein Leben!«
    Und wie der Apotheker es ihr
anderes Ich gelehrt hatte, rief sie sich vor das innere Auge, was sie von ihm
nach all der langen Zeit der Trennung in Erinnerung hatte: sein Lachen, das
still in den schwarzen Augen schimmerte. Das störrische Haar in seiner Stirn,
wenn er sich voller Konzentration über ein Buch beugte. Seine geschickten,
behutsamen Hände. Die seltenen Momente des Zorns oder Missmuts, in denen seine
Nase so scharf wurde wie ein Vogelschnabel. Der blaue Schimmer seines
nachtschwarzen Gefieders. Die kräftigen Schläge der gezackten Flügel, wenn er
über ihr hoch in den Himmel aufstieg. Seine Stimme, wenn er versuchte zu singen
– wozu ihm
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