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Der Nebelkönig (German Edition)

Der Nebelkönig (German Edition)

Titel: Der Nebelkönig (German Edition)
Autoren: Susanne Gerdom
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selbst.
    Sallies erster Sonnenaufgang,
sie hat doch noch nie einen gesehen. Sonnenaufgänge, Schnee, Regenschauer,
Herbst und Frühling – ich werde mit ihren Augen alles zum ersten Mal sehen. Wie
ich mich darauf freue!
    Kurz entschlossen griff Sarah
in ihre Schürzentasche, die schmutzig und zerrissen war. Ganz unten fand sie,
was sie suchte. Sie hob die Hand, ließ das Drachenauge erstrahlen, bis ein
grellgrüner Schein den Wolf leuchten machte wie einen zweiten Sonnenaufgang,
und dann zerdrückte sie mit einer energischen Bewegung die letzte
Wolfszahnbeere über seinem Kopf.
    »Was tust du da?«, schrie
Korben und wollte ihr in den Arm fallen, aber er kam zu spät.
    »Sei, wie du warst«, rief
Sarah und lachte vor Freude. »Sei, wie du warst!«, wiederholte sie und schloss
die Augen, während der Saft der Beere von ihren Fingern auf den Wolf hinuntertropfte.
    Das grüne Licht wurde so hell,
dass es sie blendete. Sie wandte das Gesicht ab, und als das Gleißen verblasste,
blickte sie nicht ohne Sorge auf den Wolf.
    Aber da lag ein Kind auf dem
zerdrückten, blutbefleckten Gras. Ein kleiner Junge mit aschblondem Haar und
sanftgrauen Augen, der sie verwirrt ansah.
    »Sarah«, stöhnte Korben, »was
hast du nur getan? Willst du, dass alles von vorne beginnt?«
    Sie kniete neben dem Wolfskind
nieder und berührte seine Wange. »Hallo, alter Freund«, flüsterte sie. »Du
warst nicht immer der Nebelkönig. Ich erinnere mich an dich, als du nur Bardh,
der junge Wolf warst.« Sie blickte auf und sah Korben an. »Jeder sollte eine
zweite Chance bekommen.«
    Das Drachenauge, das sie
achtlos neben dem Kind ins Gras gelegt hatte, begann zu glühen. Grüne, blaue,
violette, dunkelrote Funken sprühten, und Sarah beugte sich schützend über den
Wolfsjungen, während sie die Erscheinung beobachtete.
    »Was ist das?«, hörte sie
Korben fragen. Er legte seinen Arm um sie und starrte auf das leuchtende Auge.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte
Sarah angespannt. »Aber es ist nichts Böses, das spüre ich.«
    Das Auge vollendete den
Regenbogen mit einem strahlenden Gold, das heller und heller wurde. Ein
Lichtstrahl wie von der aufgehenden Sonne stieß aus ihm hervor in den dämmrigen
Himmel. Die beiden folgten ihm mit den Blicken und sahen, wie er weit über
ihren Köpfen, im lichten Blau des frühen Morgens, auf etwas traf, das
leuchtete, schimmerte und glänzte wie tausend Edelsteine.
    Das strahlende Ding folgte dem
Lichtstrahl und kam näher. Während es herabschwebte, begann das Gleißen und
Schimmern zu verblassen, der Lichtkörper verfestigte sich und zeigte nun vertraute
Umrisse, lange Flügel, einen gezackten Schwanz, mächtige Tatzen, ein Löwenhaupt
und einen perlmuttschimmernden Leib.
    Der Drache landete auf der
Lichtung, die fast zu klein war für seine gewaltige Größe. Er sah Sarah und
Korben lange an.
    Dann neigte er den Kopf und
musterte das Wolfskind, das furchtlos zu ihm aufblickte. »Mein Sohn«, sagte der
Drache mit einer Stimme, die dunkel hallte wie ein ferner Gong.
    Er hob seine Tatze und bot sie
dem Kind, das sich hineinschmiegte wie in den Arm einer Mutter. Dann schaute
der Drache zu Sarah. »Ich danke dir. Du hast der Welt die Gelegenheit
geschenkt, einst von einem guten, sanftmütigen und weisen König regiert zu werden.
Ich nehme ihn jetzt mit mir.« Seine funkelnden Augen lächelten. »Und ich
verspreche dir, Katzenkönigin, und dir, kluger Rabe: Ich werde meine Aufgabe
dieses Mal besser erfüllen.«
    Mit diesen Worten stieg der
Drache auf und nahm den Wolfsjungen mit sich.
    Sarah und Korben sahen ihm
noch lange nach. Er flog so hoch, dass er von den Strahlen der aufgehenden
Sonne beleuchtet wurde, und wieder glänzte er wie ein riesiger Edelstein, ehe
seine Umrisse gläsern wurden und im Morgendunst verschwanden.
    Sie senkten gleichzeitig den
Blick und schauten einander an. »Na gut«, sagte Korben.
    »Also dann«, erwiderte Sarah.
    »Was werden wir wohl dort
draußen finden?«, fragte Korben.
    »Eine ganze Welt.« Sarah
bückte sich und klaubte das blind gewordene Drachenauge aus dem Gras. Sie wog
den Stein in ihrer Hand, wieder war er nicht mehr als ein einfacher, mit Draht
umwickelter Kiesel. Einen Atemzug lang wollte sie ihn einfach in den Wald
werfen, aber dann zuckte sie mit den Achseln und steckte ihn ein.
    »Auf, mein Rabe. Lass uns in
die Welt zurückkehren. Sie wartet auf uns.« Sie nahm seine Hand und beide
verließen die Lichtung, ohne zurückzublicken.
     
    Ein Stein wurde bewegt
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