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Der Nachbar

Titel: Der Nachbar
Autoren: Minette Walters
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Boden gedrückt. Es war niemand unten. Die Tür zum hinteren Zimmer stand offen, aber die einzigen Geräusche im Haus waren von oben zu hören. Gelächter und Gesang. Sophie konnte einige Wörter ausmachen.
    »...we are the champions...we are the champions...we are the champions of the
world
...«
    Füße trommelten im Staccato auf den Boden. War das ein Freudentanz? Kam eine Horde die Treppe heruntergerannt? Sie wusste es nicht. Sie wälzte Jimmy auf den Rücken und schlug ihm ins Gesicht. »Wachen Sie auf, Jimmy!«, rief sie so laut sie es wagte, in sein blutendes Ohr. »Ich bin's, Sophie! Mel braucht Hilfe.«
    Er öffnete die Augen, und sie schlug noch einmal zu. »Weg da!«, murmelte er. »Ich bin müde.«
    Diesmal packte sie ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Mel ist in Schwierigkeiten«, sagte sie eindringlich. »Kommen Sie mit. Ich brauche Sie. Oben sind Leute. Verstehen Sie mich?«
    Die Bewegung bereitete ihm Schmerzen, und er schlug eine Hand auf sein Ohr. »O Mann! Scheiße! Was iss 'n das?«
    »Wachen Sie auf!«, schrie sie und schlug ihm wieder ins Gesicht. »Ich hab die Nase voll von Männern, die in Ohnmacht fallen.«
    Er setzte sich mit einem Ruck auf, als die Erinnerung sich meldete... Wesley... die Machete... der alte Soldat. Er sah sich um. »Wo ist Wesley?«
    »Oben«, antwortete sie und packte ihn bei der Hand, um ihn hochzuziehen. »Wir müssen gehen.«
    »Was ist mit dem alten Knaben?«
    »Der ist okay«, antwortete sie in der Annahme, er meine Franek. »Kommen Sie – kommen Sie schon.« Sie zog ihn durch den Korridor zur Haustür. »Harry hat gesagt, dass Mel umgerissen und niedergetrampelt worden ist. Wir müssen sie rausholen. Ich hab Angst um das Kind. Sie müssen sie tragen.«
    Ein beklemmendes Gefühl finsterer Vorahnung bemächtigte sich ihrer, als sie nach dem Türknauf griff. Sie erinnerte sich, wie sie das letzte Mal an dieser Tür gestanden hatte – als sie noch hätte gehen können und es nicht getan hatte, weil der Sohn eines Patienten sich bei ihr bedankt hatte, und sie stehen geblieben war, um ihn anzulächeln. Sie drehte sich nach Jimmy um. »Ich habe Angst«, sagte sie.
    »Ja«, erwiderte er, »ich auch.« Er fasste sie am Arm und zog sie hinter sich. »Ich hab ein ganz übles Gefühl«, brummte er. »Es ist viel zu still.«
    Sie klammerte sich an seine Jacke. »Was sollen wir tun.«
    Er holte tief Atem und drehte den Knauf. »Bereit sein zum Durchstarten«, sagte er und zog vorsichtig die Tür auf.
Einsatzzentrale – Luftaufnahmen aus dem
Polizeihubschrauber
    Die Polizei konnte auf die Sekunde genau nachrechnen, wie lange es dauerte, bis bei dem bestialischen Lynchmord das Gelächter in Entsetzen umschlug. Beinahe alle Gesichter waren zum Fenster erhoben, wo Wesley stolz seine Trophäe vorführte: einen alten Mann, dem die Shorts um die Fußknöchel schlotterten, dem Blut die Beine hinunterströmte, der eine Schlinge um den Hals hatte. Lebendig die Gesichter. Begierig. Erheitert. Begriffen die Leute überhaupt, was da geschah? Fand es ihren Beifall? Waren sie durch das Kino für die Realität abgestumpft? Wer konnte es sagen?
    Der Weg zum Entsetzen zeigte sich mit gleicher Lebendigkeit. Vielleicht glaubten sie, das, was Wesley da so unbekümmert an einem Seil baumelnd aus dem Fenster gestoßen hatte, wäre eine Puppe, denn eine Welle des Gelächters spielte über die Gesichter. Wenig später verwandelte sich das Lächeln in Verwirrung. Einige Leute hielten weiterhin den Blick auf den prahlenden Wesley gerichtet, die meisten jedoch wandten sich ab. Spontan drängte die Menge von der Mitte aus auseinander. Ein Mädchen fiel auf die Knie und übergab sich. Die Menschen an den Rändern des Gewühls zogen sich durch die Notausgänge zurück.
    Es war nicht ihre Schuld. Sie hatten den Schwarzen nicht gebeten, sich wie ein Wahnsinniger aufzuführen. Was er getan hatte, war ziemlich schlimm, aber na ja – es war ja nur ein beschissener Kinderschänder!
Vor dem Haus Humbert Street 23
    Gaynor hob das schweißgebadete Gesicht und sah Jimmy an, ohne in ihren Bemühungen, Colin wiederzubeleben, innezuhalten. Mit durchgestreckten Armen massierte sie sein Herz. »Eins – zwei – drei – vier – fünf.« Sie beugte sich hinunter, um Luft in seinen Mund zu stoßen. »Mel lebt, glaub ich – drei – vier – fünf.« Noch ein Atemstoß. »Bitte helft – drei – vier – fünf.«
    Sophie ließ sich neben der Schwarzen, die Mels Handgelenk hielt, auf die Knie fallen. »Wir
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