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Der Mord zum Sonnntag

Der Mord zum Sonnntag

Titel: Der Mord zum Sonnntag
Autoren: Mary Higgins Clark
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im
gleichmäßigen Nieselregen vibrierte. Die Fenster mit den
kleinen Scheiben waren in dem schwachen Lichtschein,
der durch einen Vorhangspalt drang, kaum auszumachen.
    Mike streckte sich. Vierzehn Stunden am Steuer
während der letzten drei Tage – kein Wunder, daß sein
langer, muskulöser Körper völlig verkrampft war. Er
strich sich das dunkelbraune Haar aus der Stirn und
wünschte, er hätte sich vor der Abfahrt in New York die
Zeit genommen, sich die Haare schneiden zu lassen.
Laurie zog ihn auf, als sie zu wachsen anfingen. «Du
siehst aus wie ein dreißigjähriger römischer Kaiser,
Lockenköpfchen», stellte sie fest.
    «Dir fehlt nur noch ’ne Toga und ein Lorbeerkranz, dann
bist du komplett.»
Vor etwa einer Stunde war sie eingeschlafen. Ihr Kopf
lag in seinem Schoß. Unschlüssig schaute er hinunter, es
widerstrebte ihm, sie zu wecken. Zwar konnte er ihr Profil
kaum erkennen, doch er wußte, daß im Schlaf die
verkniffene Mundpartie und der Ausdruck panischen
Schreckens aus ihrem Gesicht verschwanden.
Vor vier Monaten hatte der ständig wiederkehrende
Alptraum begonnen, dieser Horror, der sie gellend
aufschreien ließ: «Nein, ich komme nicht mit euch. Ich
will nicht mit euch singen.»
Er rüttelte sie wach. «Ist ja schon gut, Liebes. Alles in
Ordnung.»
Ihre Schreie verebbten zu verängstigtem Schluchzen.
«Ich weiß nicht, wer sie sind, aber sie wollen mich, Mike.
Ich kann ihre Gesichter nicht erkennen, aber sie drängen
sich alle dicht zusammen und winken mir zu.»
Er war mit ihr zum Psychiater gegangen, der sofort eine
intensive Behandlung begann. Doch die Alpträume gingen
weiter, unvermindert. Sie hatten eine begabte
vierundzwanzigjährige Sängerin, die gerade als Solistin in
ihrem ersten Musical am Broadway aufgetreten war, in ein
zitterndes Wrack verwandelt, das nach Einbruch der
Dunkelheit nicht allein sein konnte.
Der Psychiater hatte einen Urlaub vorgeschlagen. Mike
erzählte ihm von den Sommern, die er im Haus seiner
Großmutter am Oshbee Lake, fünfundsechzig Kilometer
von Milwaukee, verbracht hatte. «Meine Großmutter ist
im vergangenen September gestorben», hatte er erklärt.
«Das Haus steht zum Verkauf. Laurie ist nie dort gewesen,
und sie liebt Wasser.»
Der Arzt war einverstanden. «Aber geben Sie acht auf
sie», warnte er. «Sie ist schwer depressiv. Ich bin sicher,
diese Alpträume sind eine Reaktion auf ihre
Kindheitserlebnisse, aber sie erdrücken sie.»
Laurie hatte die Gelegenheit wegzufahren freudig
begrüßt. Mike war Juniorpartner in der Anwaltskanzlei
seines Vaters. «Nimm dir soviel Zeit, wie du brauchst»,
meinte der. «Hauptsache, es hilft Laurie.»
Ich erinnere mich hier an strahlende Helle, dachte Mike,
als er das in Dunkelheit getauchte Haus mit wachsendem
Schrecken betrachtete. Ich erinnere mich, wie sich das
Wasser anfühlte, wenn ich hineinsprang, an die warme
Sonne auf meinem Gesicht, an den Wind, wie er die Segel
füllte und das Boot über den See gleiten ließ.
Es war Ende Juni, hätte aber genausogut Anfang März
sein können. Dem Radio zufolge dauerte der
Kälteeinbruch in Wisconsin seit drei Tagen an.
Hoffentlich ist genügend Kohle da, um die Heizung in
Gang zu halten, dachte Mike, andernfalls verliert diese
Maklerin den Auftrag.
Er mußte Laurie wecken. Sie auch nur für eine Minute
allein im Wagen zu lassen, wäre schlimmer. «Wir sind da,
Liebes», sagte er, seine Stimme täuschte Heiterkeit vor.
Laurie regte sich. Er fühlte, wie sie sich versteifte, dann
entspannte, als er sie fest in die Arme schloß. «Es ist so
dunkel», flüsterte sie.
«Wir gehen rein und machen Licht.»
Er erinnerte sich an den ständigen Ärger mit dem
Schloß. Man mußte die Tür kräftig anziehen, bevor man
den Schlüssel herumdrehen konnte. In einer Steckdose in
der kleinen Diele war eine Nachtbeleuchtung
angeschlossen. Das Haus war zwar nicht warm, aber auch
nicht so eiskalt, wie er befürchtet hatte.
Rasch knipste Mike das Licht im Flur an. Die Tapete mit
den Efeuranken wirkte verblichen und verschmutzt. Das
Haus war in den fünf Sommern, die seine Großmutter im
Pflegeheim verbrachte, vermietet worden. Mike erinnerte
sich, wie sauber und warm und anheimelnd es war,
solange sie hier wohnte.
Lauries Schweigen war vielsagend. Den Arm um sie
gelegt, führte er sie ins Wohnzimmer. Die samtbezogenen
Polstermöbel, in denen er es sich mit einem Buch bequem
zu machen pflegte, standen noch auf ihrem Platz, wirkten
aber,
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