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Der Monat vor dem Mord

Der Monat vor dem Mord

Titel: Der Monat vor dem Mord
Autoren: Jacques Berndorf
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extreme Temperaturen ertragen, was Regenwürmer nicht konnten. Man hatte sie bis zu fünfzig Grad plus und dreißig Grad minus regungsfähig erhalten können. Bei fünfzig Grad plus erlosch das Leben, aber bei dreißig Grad minus legte es sich nur schlafen. Der absolute Tod trat erst bei achtzig Grad minus ein.
    Dann verzeichneten die Biologen eine weitere interessante Tatsache: Die Tiere vermochten Helligkeit und Dunkelheit zu unterscheiden. Sie mussten also außer dem äußerst groben Nervensystem für Reiz und Schmerz ein weiteres ausgebildet haben. Es war nicht festzustellen gewesen, ob einer der Nervenknoten diese Funktion übernahm oder einfach das ganze System auf Hell und Dunkel reagieren konnte. Wichtig war, dass eine besonders große ausgebildete Zelle am Kopfende irgendeine Steuerungsfunktion ausübte, aber man hatte nicht herausgefunden, was sie steuerte.
    Horstmann rief Ocker an. »Gehst du mit in die Kantine?«
    »Aber ja«, sagte Ocker. »Bist du schon mit den lieben Würmchen bekannt?«
    »Ich habe einen Klumpen hier«, sagte Horstmann. »Ich werde einige davon untersuchen. Ich möchte wissen, wie sie sich im Zellgewebe zusammensetzen. Vielleicht findet man da einen Angriffspunkt.«
    »Man sollte vielleicht Nervengas benutzen«, sagte Ocker vorsichtig. Ocker war immer vorsichtig, wenn er einen Vorschlag machte. Es war schwer, Horstmann einen Vorschlag zu machen, weil Horstmann besser war.
    Horstmann schüttelte den Kopf, »Nervengas geht nicht«, sagte er zu Ocker. »Denk an die übrigen Tiere! Du kannst in deiner Überlegung nur von Kontakttoxinen ausgehen. Du kennst doch die Werbung im Fernsehen: Hängen Sie diesen Strip in Ihr Wohnzimmer, und jede Fliege und jede Motte geht ein.«
    »Warum nicht gleich Slip?«, fragte Ocker und lachte. Das war so seine Art.
    Horstmann mochte diese Form von Spaß nicht. Er sagte: »Ich treffe dich in der Kantine.«
    Die Kantine war wie üblich sehr voll. Schwaden von Tabakrauch hingen in halber Höhe des Raumes über den Tischen. Es gab keine klar definierbaren Geräusche. Das Klappern von Bestecken, das Klirren von Porzellan, ein Gewirr von Stimmen – es war ein misstönendes Orchester.
    Hier schlinge ich seit sieben Jahren das in mich hinein, was sie eine Sozialleistung nennen, dachte Horstmann leicht wütend. Ja, wirklich, die Sache war bis ins Mark hinein sozial. Man bezahlte pro Essen mit einer Art Kinokarte, die für wenig Geld zu Beginn eines Monats gekauft wurde. Man stand am Ende einer langen Schlange, nahm sich aus einemKasten Gabel, Messer, Löffel und Serviette, trottete hinter dem Vordermann her, nahm dann eine flache, weiße Porzellanschüssel, die durch schmale Dämme in drei Abteilungen getrennt war, wechselte sie in die linke Hand hinüber und hielt sie irgendwelchen Frauen in keineswegs makellosen Schürzen hin, die Kartoffeln oder Rotkohl oder einen Fleischkloß draufklatschten. Natürlich jede einzelne Gabe in das dafür vorgesehene Becken innerhalb der Porzellanschüssel. Das war sehr sozial, denn die Firma zahlte die Hälfte eines jeden Essens aus der eigenen Tasche. Das wurde jedenfalls bei jeder Betriebsfeier eigens erwähnt. Es war wirklich enorm sozial.
    Horstmann steuerte durch das Gewühl der Tische und fragte sich, wie diese vielen Leute das aushalten konnten. Diesen Geruch, dieses Geschwätz, dieses immerwährende: »Der Chef hat auch gemeint.«
    »Es gibt schon wieder Bratwurst«, sagte Ocker vorwurfsvoll. »Ich kann das Zeug nicht mehr ausstehen.«
    »Ich auch nicht«, sagte Horstmann. Er hatte bis jetzt nicht einmal gemerkt, dass man in eine Abteilung seiner Porzellanschüssel eine Bratwurst mit einer Portion beinahe industriell riechender Tunke hatte rutschen lassen. Er rührte mit der Gabel in der Tunke herum und murmelte: »Das könnte Schmieröl sein oder so etwas. Schmieröl mit Rosmarin und einem Schuss Tabasco.«
    Ocker lachte, denn er bewunderte Horstmanns verlegen bissige Bemerkungen. Und Bachmann, der Junge, lachte auch. Aber er sagte: »Ich finde diese Errungenschaften der modernen Zivilisation großartig. Jeder futtert dasselbe zum gleichen Preis.«
    »Mein Sohn«, sagte Horstmann, »Sie werden eines Tages noch begreifen lernen, dass diese Art von Fresserei niemalsden Darm verstopft, aber die Gehirnwindungen und die Seele.«
    Bachmann war ein wenig verstört, aber er lächelte mit dem Wissen der Praktikanten. »Sie sind ein Spötter, Doktor Horstmann.«
    »Ich bin nur müde«, sagte Horstmann. »Und außerdem bin ich
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