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Der Moderne Knigge

Der Moderne Knigge

Titel: Der Moderne Knigge
Autoren: Julius Stettenheim
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Tischnachbarin heute mit großer Sachkenntnis zu sprechen pflegt, namentlich über das Zweirad, den Torpedo, die verrückte Lyrik und die Theorie Schenck [Fußnote: [August Schenck (1815-1891) erforschte besonders die Verbreitung und Lebensweise der vorweltlichen Pflanzen.]] , irgend etwas sagen können, wodurch die Tischnachbarin beruhigt wird. Vor allem vermeide man, praktische Fragen zu berühren. Ist die Dame sehr mager, so spreche man nicht über die zufällig herrschende Fleischnot, und ist sie reichlich korpulent, so sei man sehr erstaunt darüber, daß sie weder Suppe, noch Kartoffeln esse, wodurch man sie in den Glauben versetzt, man halte sie für auffallend schlank.
    Beim Einschenken sei man vorsichtig. Gewöhnlich stecken die Damen ihre Handschuhe in eines der Weingläser. Füllt man nun ein solches Glas, so halten dies die Damen mit Recht für schädlich, nicht etwa dem Wein, sondern den Handschuhen, wodurch man als Freund des Weins unangenehm berührt wird.
    Hat man das Glück, vor einem der beliebten großen Blumenarrangements placiert zu sein, so ändere man nichts daran. Man ist dadurch von den Gegenübersitzenden getrennt, während man ohne diese Flora-Vogesen mit dem Paar leicht in ein Gespräch geraten könnte. Das Paar will aber vielleicht selbst nicht gestört sein. Andernfalls kann es auch möglich sein, daß das Paar sehr langweilig ist. Ich habe wohl noch nicht festgestellt, daß bei Abfütterungen die langweiligen Paare nicht zu den Seltenheiten gehören.
    Ist man verheiratet und sitzt man neben einer jungen Frau, so nehme man Rücksicht auf die gleichfalls anwesende eigene Gattin und mache nicht zu auffallend den Hof. Man flüstere seiner Nachbarin nichts ins Ohr, schon weil diese Verkehrsart etwas sehr verbraucht ist, sondern sage alles wie im Selbstgespräch vor sich hin. Auch lasse man die Hände der Dame in Ruhe und bediene sich lieber zur Bekräftigung seiner Redensarten statt des Hände- des Füßedrucks, falls die Dame auf solche Eidesform einigen Wert legt. Doch sei man in der Wahl des Fußes vorsichtig und erwische nicht etwa einen Männerfuß, wodurch ein Au! oder ein ähnlicher Schmerzensschrei erweckt wird, den die Umgebung sofort richtig auffaßt.
    Wenn getoastet wird, zeige man, daß man ein Mann ist. Vor allem schlage man nicht um sich. Man ändert dadurch nichts. Erstens kann der Toast gut sein oder es allmählich werden, und zweitens dauert er andernfalls ja keine Ewigkeit. Duldsamkeit ist überhaupt eine der schönsten Eigenschaften des Gastes. Auch sei man rücksichtsvoll und ergreife nicht selber das Wort. Befindet sich unter den Tischgästen einer, von dem man weiß, daß er regelmäßig stecken bleibt, so animiere man diesen, einige Worte auf die Wirtin, oder deren Schwiegermutter zu sprechen. Das Steckenbleiben belebt die Stimmung ungemein.
    Kommen Lieder zur Verteilung und sind diese in Quart gedruckt, so nehme man zwei Exemplare und wickele Bonbons für die Kinder hinein. Das zeugt von väterlicher Zärtlichkeit. Man achte aber darauf, daß man das Packet nicht in die Hintertasche stecke, auf die man sich später gewöhnlich setzt. Dies haben dann die beschenkten Kinder nicht gern. Bei der Wahl der Bonbons sehe man nicht auf die Ausstattung, unter welcher gewöhnlich die Qualität der Näscherei zu leiden hat.
    Über den Umgang mit der Serviette möchte ich einige Zeilen sagen. Zu erschöpfen wird dieser Gegenstand nicht sein. Ich finde, daß die Serviette, obwohl sie so etwas von einer Fahne der Kultur hat, eigentlich stehen geblieben ist und heute noch wie vor hundert Jahren die Speisenden mehr ärgert, als ihnen dient. Wer sie nicht zwischen Hals und Binde steckt, oder gar so befestigt, daß sie als Brustschürze dient, – beides trägt nicht zur Hebung der menschlichen Erscheinung bei – wird die Bemerkung machen, daß sie häufiger den Fußboden als den Schooß bedeckt. Stets strebt sie, herabzufallen, und man könnte deshalb von einer Niedertracht der Serviette sprechen. Der Gast wird natürlich immer wieder dies ebenso nützliche als untreue Wäschestück einzufangen suchen und zu diesem Zweck sich seufzend bücken und die Hand unter die Tischdecke verschwinden lassen müssen. Dieser einfache, harmlose und dem Reinen absolut reine Vorgang wird aber häufig mißdeutet, und es ist daher nötig, daß der tauchende Gast seine Tischnachbarin genau abzuschätzen trachtet, bevor er der abgestürzten Serviette nachjagt. Denn es giebt Damen, welche diese Bewegung
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