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Der Minus-Mann

Der Minus-Mann

Titel: Der Minus-Mann
Autoren: Heinz Sobota
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Diebstahl an der Wahrheit. Eine selige Erfindung, aber es ist Lüge.
    Ein schlafzerdrücktes Gesicht, weiche, warme Lippen.
    »Ich liebe dich …«, sagt Stella.
    »Ich liebe dich«, sage ich. Das Taxi wartet. Ich will nicht, daß sie mich begleitet. Die schwarzgraue Fassade taucht auf.
    Ihr Lächeln war vertraut und zärtlich wie der eigene Atem.
    »Hebns die Hand«, schreit der Beamte, der Geschniegelte, Fette, Laute. Es darf mich nicht berühren, darf es nicht zerstören, es, die Gralsschale am Misthaufen, im Dreckbunker. Es darf nicht berührt werden. Es stinkt. Alles stinkt. Die Decken, die Zelle, die Mithäftlinge.
    »Host di uandlich auspudat?« fragt einer.
    Du weißt doch, daß es nichts zu bedeuten hat, so reden sie. Immer reden sie so. Immer waren ihre Worte so deutlich, so ordinär. Du hast es doch sonst immer überhört. Aber es ist nicht zu überhören, es gellt und schreit und frißt.
    Der Himmel ist grau. Metallisch hängt er gegen die Gitter.
    »De Scheißoide hot net gschriebn, de Scheißdreckfliagn. Heinzl, host wenigstens de Weiba fest auf de Goschn ghaut, wiast draußn woast«, sagt einer und lacht mit zynisch verzogenen Lippen.
    Meine Sprache. Ist das, war das meine Sprache? Jahrelang, meine Worte und Gesten und Gedanken. ›Ja‹, sagt die Stimme, und ich höre hin. Aber dann waren diese drei Tage Irrtum, waren Lüge und Beherrschung, ein verzweifelter Versuch. Und jetzt, jedes Wort in der Zelle tropft glühend in mein Hirn. Schwemmt und spült Scheiße hoch. Quellende Gesichter, fleischige, krumme, zerschlagene Nasen. Schiefe, graue, rattige, schwarze, zerbrochene, nikotinzerfressene, reißende Zähne. Stumpfe, gierige, gefirnißte, wieselnde, leere, glitzernde, tote, rauchige, alte, spiegelnde Augen. Und Schreie, aus geworfenem Mund, und zerhackte, böse, verdrängte Worte.
    Und dann schlage ich mit der Faust in einen Mund, gegen Nasen und Augen. Ich schaue auf meine Hände, sie sind blutig. Einer liegt am Boden, der andere taumelt in der Zelle. Blut fließt ihm aus Mund und Nase, aus einem Auge.
    Du hast es verarbeitet, analysiert und bewältigt. Das waren doch ihre Worte …? Keine Brutalität in den Händen, im Gehen, der Körperhaltung. Ich könnte es nicht mehr ertragen. Und nun, Blut auf Haut und Angst in den Gesichtern, wo bleibt deine Antwort?
    Ich sitze bei der Heizung. Es ist still. Sie liegen auf den Betten, lesen und schlafen. Ein Samstagnachmittag. Papier liegt vor mir. Ich schreibe den letzten Brief. Vier Blätter liegen zerknüllt am Boden. Mein Gehirn weigert sich, vermag die Gedanken nicht in Worte umzusetzen, läßt mich in starrem Schauen und einem bitteren, stummen Monolog.
    Schweigend und schlaflos warte ich in die Dunkelheit.
     
    »Ihr Entlassungsgeld«, sagt der Beamte. S. 81,-, dann gehe ich. Sie wartet. Das Tor im Rücken, ihre Hände tasten über mein Gesicht.
    »Du bist da«, sagt Stella. Eine Straßenbahn bimmelt an der Kreuzung. Eine Kolonne staut sich vor dem Landgericht. Es ist der 12. Februar 1974.
     
    Die Bar ist am Hafen. Eine breite Straße trennt mich vom Wasser. Der Calvados ist ölig in meinem Mund, riecht sympathisch. Die Schnapsflasche wird zum Apfelbaum, Kindheit dahinter. Die Spitze der Kirche am Felsen, Notre Dame de la Garde, blinkt wie Gold im späten Licht. Marseille – der faszinierende Dreckhaufen am Golfe de Lyon. Stadt der Heroinhändler und Huren. Gestank, Dreck, Korruption und Schönheit. Glitzernd, heiß und ohne Erbarmen. Menschenströme am Tag und um Mitternacht und die kleinen Nutten auf der Place d’Opera. Night-Clubs, Dancings, Killer, Zuhälter, Diebe und wieder Nuttenschwärme. Weiße, gelbe, braune und blauschwarze Djibutiweiber. Stehen, warten, geilen in die Gegend. »Allez, vien avec moi cherie.«
    Korsen und Araber, Sizilianer, Neger und Indochinesen, Legionäre und Chilenen von den Schiffen draußen in den Hafenbecken. Sprachengewirr und Lachen, Pistolen in den Jacketts und Messer in den Ärmeln. Hunderte Bars und Restaurants. Rockergruppen und Spieler, Transvestiten und die Heilsarmee. Plärrende Musikboxen und lastende Hitze über den Booten.
    Menschen gegenüber an der Anlegestelle der Fähre. Langsam wuchtet das Boot über den Wasserstreifen. Ein alter Mann mit verwaschener Mütze kassiert den Fahrpreis. Dann verläßt die Fähre das Ufer hinüber zum Quai des Belges auf der anderen Seite. Die Bucht ist ein enger, langgezogener Halbkreis. Boot liegt an Boot gedrängt, leise schwappt das Wasser an die Planken.
    Ein
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