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Der Menschenspieler

Der Menschenspieler

Titel: Der Menschenspieler
Autoren: Will Lavender
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nicht.«
    »Aber sie glauben …«
    »Vergiss, was sie glauben. Sie kennen Dr. Aldiss nicht so, wie ich ihn kenne.«
    Einen Augenblick schwiegen sie. Die CD war zu Ende und begann erneut beim ersten Stück.
    »Fährst du also deswegen wieder dorthin? Um ihn noch einmal zu retten?«
    »Nein.«
    »Warum dann?«
    »Weil sie mich brauchen.«
    Das war alles. Es wurde still im Zimmer. Sie spürte, wie er noch näher kam. Sein Bein legte sich hoch auf sie, zog sie an sich, hielt sie fest. Sie dachte, sie hörte ihn flüstern, dachte, sie hörte zwei gemurmelte Worte auf seinen Lippen – Fahr nicht –, aber Alex war sich nicht sicher.
    Dann wurde Peters Atmung regelmäßig. Sie befreite sich vorsichtig aus seiner Umklammerung und ging in die Bibliothek am Ende des Flurs. Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers befand sich ein Fenster, vor dem eine staubige Jalousie hing. Alex zog die Jalousie hoch und räumte die Fensterbank leer. Das Päckchen fühlte sich kalt an. Sie sah zur Tür nach Peter, dann schob sie das Fenster mit den Fingerspitzen ein kleines bisschen hoch. Einen Moment lang lauschte sie dem Rauschen des entfernten Verkehrs, dann nahm sie eine Zigarette aus dem Päckchen und zündete sie an. Sie inhalierte mit geschlossenen Augen, lauschte. Dachte nach.
    Sie wollte kein Licht anmachen. Sie rauchte einfach in der umhüllenden Dunkelheit, wartete. Worauf wartete sie? Sie wartete auf ein Zeichen, eine Wahrheit, eine Eingebung, dass sie das Richtige tat, wenn sie nach Jasper zurückkehrte.
    Sie erinnerte sich an Michael Tanner. Der jetzt tot war, tot und still. Sie erinnerte sich an Michaels Gesicht, als sie das Seminar besuchten. In ihrer Erinnerung war es im Seminarraum immer halbdunkel, verschwommen, alles gedehnt und elastisch. Die Studenten gerahmt von der statischen Dunkelheit, als hätte die Nacht sich hineingedrängt.
    Gefällt dir dieser Raum?, hatte er eines Abends gefragt.
    Nein, sagte sie . Gar nicht.
    Mir auch nicht. Niemandem von uns.
    In dem Augenblick, als sie in dieser kleinen Bibliothek stand, die eine Besenkammer hätte sein können, umgeben von Büchern, passierte alles und nichts. Die Welt draußen rauschte weiter. All diese Fremden fuhren dorthin weiter, wohin sie unterwegs waren, und Alex steckte hier mit all ihren unbeantworteten Fragen über einen toten Professor fest.
    Aber nein. Das stimmte nicht ganz. Eine große Frage war heute Abend beantwortet worden.
    Sie war ganz gewiss beantwortet worden. Dessen war sich Alex sicher.
    Das Spiel hatte wieder begonnen.
    4
    Richard Aldiss’ Augen blieben offen, dieses ewige Lächeln war auf seinem Gesicht eingebrannt. Er schien auf etwas zu warten. Eine Antwort vielleicht. Eine Lösung der Rätsel des Toten. Alex’ Hände zuckten derweil zu ihrer Jackentasche. Das Nikotinkaugummi war da, und sie musste gegen den Drang ankämpfen, es herauszunehmen, ein Eckchen herauszudrücken und wie verrückt darauf herumzukauen.
    Stattdessen beobachtete sie bloß den Professor. Beobachtete ihn und sagte nichts und dachte: Bitte sagen Sie mir, dass Sie nichts damit zu tun haben.
    »Es gibt eine Art von sehr seltenem Rätsel«, sagte Aldiss schließlich. »Es heißt Cyndrot . Seine Teile finden sich überall. Ein spitzer Stock, vielleicht eine Buchseite. Die Regeln sind variabel und nicht festgelegt wie bei jedem guten Spiel. Chaotisch. Man bekommt einen Hinweis, ein Blatt Papier mit der Zahl 2 darauf, und dann beginnt man die Suche. Zwei Stöcke, zwei Seiten, zwei Socken. Die besten Spieler gehen jedoch über das Spiel hinaus. Sie sammeln keine Gegenstände in exakten Paaren, sie sammeln Gegenstände, die eine Wechselwirkung aufeinander haben. Einen Stock und ein Samenkorn. Aus dem Samenkorn ist der Baum entstanden, an dem der Ast gewachsen ist, aus dem der Stock gemacht wurde. Ein Buch und ein Stift. Der Stift schrieb die Seite, aus der das Buch hervorging. Alles bezieht sich auf die Genese, die Evolution.«
    »Was hat das mit Michael Tanner zu tun?«
    Aldiss wartete. Seine Atmung war sanft, schwermütig.
    »Vielleicht nichts, Alexandra. Vielleicht ist es aber auch voller Bedeutung.«
    Er stand auf, wirbelte aus der Dunkelheit auf sie zu. Seine Hände ausgestreckt. Instinktiv lehnte Alex sich zurück, von ihm weg. »Bitte«, sagte er. »Lass mich dir zeigen, was ich meine.«
    Er nahm ihr Handgelenk. Es war eine einfache Geste, die Geste eines Liebhabers. Sie empfand einen kurzen Schock, als er sie berührte. Die dünnen femininen Hände des Professors
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