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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief
Autoren: Javier Tomeo
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ihn, so oder so, nicht ärgern können. Und wissen Sie weshalb, Bautista? Ganz einfach: weil er sie nicht wird entziffern können. Wir haben hier einen der großen Vorteile einer unleserlichen Handschrift: unsere Empfänger können sich niemals gekränkt fühlen. Und wenn wir ihnen etwas raten und sie unsere Ratschläge nicht befolgen, bleibt uns stets der tröstliche Gedanke, daß sie ihnen deshalb nicht folgen, weil sie sie nicht verstehen. So wird Don Demetrio eine halbe Stunde, nachdem er mit der Lektüre des Briefes begonnen hat, noch immer nicht wissen, ob ich ihm Mäßigung beim Essen anrate oder ob ich ihm von der Panspermie erzähle, jener Theorie, welche die Entstehung des Lebens auf die künstliche Aussaat lebender Keime zurückführen will, die alte Meteoriten auf unsere Erde gebracht haben sollen. Sie zweifeln, Bautista? Erinnern Sie sich denn nicht mehr, daß alle Wörter meines Briefes – absolut alle, mit Ausnahme der Unterschrift – ohne jeden Zwischenraum aneinandergereiht sind? Erinnern Sie sich nicht an die subtile Tarnung der Umlaute? Und an den i-Punkt, der immer ein bißchen vor-oder nachversetzt ist? Dazu kommt eine weitere List, die ich bislang noch nicht erwähnt habe: meine Handschrift ist so winzig, daß niemand, nicht einmal mit Hilfe einer starken Lupe, imstande wäre, sie zu lesen. Eine echte Miniatur, eine Mikroskopie. Ha! Ha! Haben Sie je einen Mann gekannt, der mehr Weitblick als ich besessen hätte? Die Schiffe täten gut daran, zwei Anker mit sich zu führen, denn Vorbeugen bedeutet bewahren. Vorsicht tut Not, große Vorsicht. Tu niemals alles, was du kannst, noch sage alles, was du weißt, noch beurteile alles, was du siehst, noch glaube alles, was du hörst. Ist das Unglück erst einmal da, läßt es uns alles fürchten und an allem verzweifeln, das Glück aber macht uns blind. Mein Brief ist ein Wunderwerk an Dunkelheit, denn die Dunkelheit ist das Paradies der Seligen und der Huris. Heute morgen entwickle ich eine besondere Vorliebe für Sprichwörter, denn ich möchte keine Gelegenheit Vorbeigehen lassen, Ihnen meine Gedanken ganz genau begreiflich zu machen. In der Finsternis, so sagt ein anderes Sprichwort, liegt immer eine geheimnisvolle Größe. Ich will jedoch offen mit Ihnen sein. Ich kann nicht das Risiko eingehen, daß Sie diesen Raum achselzuckend verlassen. Ha! Ha! Sie sind überrascht, mein Freund? Sie sind verblüfft über den Scharfsinn Ihres Herrn? Sie schauen mich seltsam an, als würden Sie heute morgen endlich beginnen, mich zu verstehen... Seien wir jedoch nicht zu optimistisch und fahren wir mit unseren Planungen fort. Nehmen wir einmal an, dem Herrn Grafen gelingt es durch mühselige Anstrengung trotz allem, einige wenige Wörter zu entziffern. Zum Beispiel das Wort Kaffee oder das Wort Tabak. Glauben Sie, daß mich diese Möglichkeit beunruhigt? Keine Spur. Denn sagen Sie mir, was könnte es ihm nützen, ein einzelnes Wort zu erkennen? Was könnte es ihm sagen unter den fünfhundert, die es umgeben? Über den Tabak, zum Beispiel, lassen sich viele und sogar widersprüchliche Dinge sagen. Wie sollte Don Demetrio wissen, ob ich mich auf die Nikotinvergiftung beziehe oder auf das sogenannte Raucherherz, das man bisweilen bei Rauchern findet? Das gleiche gilt für den Kaffee. Wie soll man, mit dieser einfachen Vokabel als Ausgangspunkt, herausfinden, was folgt? Über den Kaffee läßt sich ebenfalls so manches sagen. Zum Beispiel, daß die äthiopischen Mönche ihn tranken, um die ganze Nacht hindurch im Gebet standhalten zu können, oder daß sein Gebrauch, um nicht zu sagen Mißbrauch, in den klassischen Kulturen vielen allzu weinfreudigen Männern analytische Fähigkeiten verlieh. Oder aber daß der Kaffee, mag dies auch eine Binsenwahrheit sein, immer schwarz ist, denn hätte er eine andere Farbe, wäre er kein Kaffee mehr. Begreifen Sie? Ein Universum an Interpretationen. Jedes noch so bescheidene Wort versetzt uns an eine Kreuzung, von der viele Wege abzweigen, und jede Richtung, die wir einschlagen, kann die richtige sein. Weder das Wort Kaffee noch das Wort Tabak bedeuten, für sich genommen, sehr viel. Und Ähnliches läßt sich von den Menschen sagen, denn auch ein Mensch bedeutet, einzeln betrachtet, nicht allzu viel. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, jemand würde anhand meiner Person die übrigen Menschen begreifen wollen und eine umfangreiche Abhandlung über die Menschheit schreiben. Das Buch würde unzweifelhaft ein Fiasko werden, denn zum
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