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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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mit einer absurden Wendung: »Ist der Hund noch bei dir?« Er wusste, dass es mit Bettina vorbei war, seit bald drei Jahren. Machte er sich Sorgen, dass Schmidt vereinsamen oder verwahrlosen könnte?
    »Natürlich, Shiva ist ständig um mich. Hierher konnte ich ihn nicht bringen. Warum die Frage?«
    »Er ist ein guter Hund«, schien er die Annahme zu bestätigen.
    »Du solltest nicht so lange reden, Papa. Es strengt dich an. Und ich grüße Shiva von dir!«
    »In der indischen Mythologie ist er der Herr über die Schöpfung und die Zerstörung, habe ich recht?«
    »Ja, du hast recht«, räumte Schmidt unsicher ein.
    »So werden wir sehen, ob es ein gutes Zeichen ist, dass er nicht mit dir hier war. Leb wohl, Ulrich!«
    Vorsichtig hob er die große und doch leichte, wie ein Flussdelta blaugeäderte Hand des Vaters an und drückte sie: »Bis ganz bald, Papa.«
    »… ein Leben der Pflichterfüllung für seine Familie und für den bayerischen Staat.« Sein Bruder sah dem Vater so ähnlich. Nun, mit der getragenen Mimik des Trauerredners war er dem alten Mann noch ähnlicher geworden. Die Augen standen weit auseinander über den östlich breiten Wangenknochen. Hinter den starken Brillengläsern konnte man die hellblauen Augen kaum erkennen. Den Text las er in der nasskalten Aussegnungshalle vor etwa hundert Trauergästen vom Blatt ab. Ein kalter, offizieller Nachruf. Aber Franz musste ihm doch viel näher gestanden haben als er selbst. Konnte er nicht mit einigen Sätzen auf die Leidenschaft seines Vaters für ausgedehnte Waldspaziergänge eingehen, seine Faszination für seine ihm so wesensfremde Frau?
    ***
    Bei der bloßen Erinnerung an die starren, höfischen Wendungen des Nachrufs auf seinen Vater zieht er fröstelnd den Mantel um sich zu. Er schnippt den Zigarillostummel auf den Aushub und saugt die Nachtluft tief ein. Sie schmeckt weich und nach Pilzen. Der strenge Zigarillorauch hat die quellende Modrigkeit des aufgebrochenen Waldbodens überlagert. Während er den Spaten erneut zur Hand nimmt, schüttelt Schmidt leise den Kopf. Hier steht er mit schmerzenden Händen nachts im Wald, um einen Hund zu beerdigen. Der Tod seines Vaters hatte ihn als Veranstaltung verstört. Aber der Verlust hatte ihn in dem Moment nicht erschüttert. Er hatte bei der Trauerfeierlichkeit immer wieder versucht, sich in seinen Erinnerungen mit dem Vater zu verbinden. Vergebens.
    ***
    Spaziergänge in der Kindheit. Franz und er hatten beide einen Stock im Kreuz, mit den zurückgebogenen Ellbogen eingeklemmt. Das fördert eine aufrechte Haltung, hatte sein Vater verfügt. Nur kann man damit keine Mäuse jagen, Pilze sammeln oder auch nur schnell durch den Wald rennen.
    Die Gerechtigkeit mit den Geschenken bei allen Festen, am Sonntagstisch mit Fleisch oder Fisch, war unbestechlich. Sie ließ keinen Raum für einen kleinen Handel, für raffiniertes Betteln. Je länger er während der leichenstarren Zeremonie in seiner Erinnerung suchte, desto erfolgloser erschien ihm sein Bemühen, seinen Vater zu finden und dabei schmerzlichen Verlust zu spüren. Immer mehr erschien er ihm wie ein Prinzip. Ein Prinzip mit vielen Untertiteln und Regeln. Unveränderlich und darum wahrscheinlich auch unsterblich. Das Prinzip Vater konnte man nicht beerdigen, dachte er verwirrt. Der da beerdigt wurde, hatte sich in ein alles überlebendes Prinzip transformiert. Und als solches machte er sich der Trauer unzugänglich. Denn die Trauer knüpfte an am Verschwinden, am Verlust. An allem, was lebendig war, fühlbar und zerstörbar.
    Die Rede seines Bruders schien dem Ende zuzugehen. »Für seine großen Verdienste um den Freistaat Bayern hat er den Bayerischen Verdienstorden erhalten. Sein unermüdliches Engagement in der Schlesischen Landsmannschaft um …« Sein rascher Blick auf das blasse, abgespannte Gesicht seiner Mutter verriet ihm nicht, wie sie die Rede aufnahm. Ihre Augen waren auf den pompösen Eichensarg und die Blumenkränze gerichtet, die ihn säumten. Mozarts Begräbniskonzert beruhigte Schmidt wieder. Die kraftvolle Musik, die Hoffnung und Niederlage verband, löste die Bitternis, die die Rede seines Bruders hatte aufsteigen lassen.
    Schmidt hatte erklärt, dass er nicht bei dem Anlass sprechen wollte. Franz hatte fast erleichtert zugestimmt. Er hatte all die Honoratioren eingeladen, die die kalte Halle neben den wenigen Verwandten füllten. Überwiegend ältere Männer, deren schwarze Mäntel und Hüte ihre meist bayerisch halslose, massige Gestalt
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