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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Autoren: Robert Musil
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anders besser, und der Mann mit gewöhnlichem Wirklichkeitssinn gleicht einem Fisch, der nach der Angel schnappt und die Schnur nicht sieht, während der Mann mit jenem Wirklichkeitssinn, den man auch Möglichkeitssinn nennen kann, eine Schnur durchs Wasser zieht und keine Ahnung hat, ob ein Köder daran sitzt. Einer außerordentlichen Gleichgültigkeit für das auf den Köder beißende Leben steht bei ihm die Gefahr gegenüber, völlig spleenige Dinge zu treiben. Ein unpraktischer Mann – und so erscheint er nicht nur, sondern ist er auch – bleibt unzuverlässig und unberechenbar im Verkehr mit Menschen. Er wird Handlungen begehen, die ihm etwas anderes bedeuten als anderen, aber beruhigt sich über alles, sobald es sich in einer außerordentlichen Idee zusammenfassen läßt. Und zudem ist er heute von Folgerichtigkeit noch weit entfernt. Es ist etwa sehr leicht möglich, daß ihm ein Verbrechen, bei dem ein anderer zu Schaden kommt, bloß als eine soziale Fehlleistung erscheint, an der nicht der Verbrecher die Schuld trägt, sondern die Einrichtung der Gesellschaft. Fraglich ist es dagegen, ob ihm eine Ohrfeige, die er selbst empfängt, als eine Schmach der Gesellschaft oder wenigstens so unpersönlich wie der Biß eines Hundes vorkommen werde; wahrscheinlich wird er da zuerst die Ohrfeige erwidern und danach die Auffassung haben, daß er das nicht hätte tun sollen. Und vollends, wenn man ihm eine Geliebte fortnimmt, wird er heute noch nicht ganz von der Wirklichkeit dieses Vorganges absehen und sich mit einem überraschenden, neuen Gefühl entschädigen können. Diese Entwicklung ist zurzeit noch im Fluß und bedeutet für den einzelnen Menschen sowohl eine Schwäche wie eine Kraft.
    Und da der Besitz von Eigenschaften eine gewisse Freude an ihrer Wirklichkeit voraussetzt, erlaubt das den Ausblick darauf, wie es jemand, der auch sich selbst gegenüber keinen Wirklichkeitssinn aufbringt, unversehens widerfahren kann, daß er sich eines Tages als ein Mann ohne Eigenschaften vorkommt.

5

Ulrich
    DER MANN ohne Eigenschaften, von dem hier erzählt wird, hieß Ulrich, und Ulrich – es ist nicht angenehm, jemand immerzu beim Taufnamen zu nennen, den man erst so flüchtig kennt! aber sein Familienname soll aus Rücksicht auf seinen Vater verschwiegen werden – hatte die erste Probe seiner Sinnesart schon an der Grenze des Knaben- und Jünglingsalters in einem Schulaufsatz abgelegt, der einen patriotischen Gedanken zur Aufgabe hatte. Patriotismus war in Österreich ein ganz besonderer Gegenstand. Denn deutsche Kinder lernten einfach die Kriege der österreichischen Kinder verachten, und man brachte ihnen bei, daß die französischen Kinder die Enkel von entnervten Wüstlingen seien, die zu Tausenden davonlaufen, wenn ein deutscher Landwehrmann auf sie zugeht, der einen großen Vollbart hat. Und mit vertauschten Rollen sowie wünschenswerten Änderungen lernten ganz das gleiche die auch oft siegreich gewesenen französischen, russischen und englischen Kinder. Nun sind Kinder Aufschneider, lieben das Spiel Räuber und Gendarm und sind jederzeit bereit, die Familie Y aus der Großen X-gasse, wenn sie ihr zufällig angehören, für die größte Familie der Welt zu halten. Sie sind also leicht für den Patriotismus zu gewinnen. In Österreich aber war das ein wenig verwickelter. Denn die Österreicher hatten in allen Kriegen ihrer Geschichte zwar auch gesiegt, aber nach den meisten dieser Kriege hatten sie irgend etwas abtreten müssen. Das weckt das Denken, und Ulrich schrieb in seinem Aufsatze über die Vaterlandsliebe, daß ein ernster Vaterlandsfreund sein Vaterland niemals das beste finden dürfe; ja mit einem Blitz, der ihn besonders schön dünkte, obgleich er mehr von seinem Glanz geblendet wurde, als daß er sah, was darin vorging, hatte er diesem verdächtigen Satz noch den zweiten hinzugefügt, daß wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche (hic dixerit quispiam = hier könnte einer einwenden…), denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein. – Er war sehr stolz auf diesen Satz gewesen, aber er hatte sich vielleicht nicht verständlich genug ausgedrückt, denn es entstand große Aufregung darüber, und man hätte ihn beinahe aus der Schule entfernt, wenngleich man zu keinem Entschluß kam, weil man sich nicht entscheiden konnte, ob seine vermessene Bemerkung als Lästerung des Vaterlands oder als Gotteslästerung aufzufassen sei.
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