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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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Schicksal von Generationen in meiner eigenen Seele, meinem kaum zu beschreibenden Lebensweg?
    Die Sonne steht inzwischen tief, die Berge schimmern grau-silbrig gegen den im Abendlicht geröteten Himmel. Noch ein paar Minuten die Stille genießen. Leiser Wind läßt die Blätter »meines« Baumes rascheln.
    Wie lauten noch gleich die ersten Zeilen des Liedes, mit dem ich in wenigen Wochen mein Konzert beginnen werde? Ich öffne meine Textmappe, die ich in diesen Tagen immer bei mir habe, obwohl ich längst auch ohne sie auskommen könnte, und vergewissere mich: »In mein Gesicht ist eingegraben, wie ich fühle, was ich bin, hier ein Lächeln und dort Narben, ein paar Tränen mittendrin.«

Auf der richtigen Seite des Vorhangs - München, 4. Oktober 2003
    Olympiahalle. Das unnachahmliche Geräusch gedämpfter, vieltausendfacher Schritte. Das ineinander verwobene Klappern von Stühlen. Stimmengewirr, das anschwillt und gespannte Erwartung
spüren läßt. Ein unergründliches, angespanntes Rauschen, Murmeln, Vibrieren, das den riesigen Raum erfaßt und meine innere Anspannung zu spiegeln scheint.
    Jemand kommt auf mich zu, klopft mir auf die Schulter. Ich höre ein »toi, toi, toi«, das ich nicht zuordnen kann. Tunnelblick. Ich bin konzentriert auf das wesentliche, nehme nur meine Betreuer Nici Dumba und Alex Grabowsky wahr, die neben mir stehen und versuchen, mich vor jeder Ablenkung abzuschirmen. Veranstalter, die mir Minuten vor dem Auftritt die Hand schütteln wollen, Sicherheitsleute, die Fragen stellen, Ordner, die sich Autogramme wünschen, wenige Augenblicke vor dem Auftritt. Alles das wird so gut es geht von mir ferngehalten, vor allem heute, am Tag der Tourneepremiere, hier, in München, in der Stadt, in der ich viele Jahre meines Lebens gelebt habe, in der meine Kinder geboren wurden, mein Sohn Johnny mit seiner Familie lebt, viele Freunde von mir wohnen, sich unermeßliche Erinnerungen verbinden - auch an die schwierigen Jahre meines Anfangs. Damals habe ich in kleinen Clubs gespielt, heute fülle ich die Olympiahalle. Manchmal scheint es mir fast unbegreiflich.
    103 Konzerte liegen vor mir. Ein Marathon. 103mal um 18 Uhr in der Halle sein - zum Soundcheck mit dem Orchester und der gesamten Technik, um den Raumklang und das Licht auf die jeweilige Halle abzustimmen und um das Monitoring einzurichten, das es uns auf der Bühne ermöglicht, uns gegenseitig zu hören. Manche Musiker sitzen ja bis zu 16 Metern voneinander entfernt und könnten einander ohne diese Bühnenlautsprecher nicht hören. Natürlich wird der Soundcheck aber auch für letzte Proben und das Beseitigen von Unsicherheiten genutzt. 103mal um 19 Uhr einen Teller klare Suppe und eine Scheibe Brot essen; ich darf nicht satt sein auf der Bühne, denn wer satt ist, überzeugt nicht. 103mal in oft desillusionierenden Garderoben auf meinen Auftritt warten, meine Motivation finden. 103mal zwischen 20 und 23 Uhr ein Höchstmaß an Konzentration, physischer und psychischer Kraft aufbringen. 103mal in fremden Städten nach einem Lokal suchen, das um Mitternacht noch etwas zu essen anbietet oder nachts mit einem Sandwich die Reise in die nächste Stadt antreten. 103mal in einem fremden Hotelbett übernachten und versuchen, die Unruhe und Anspannung zu verscheuchen, ein wenig inneren Frieden zu
finden. 103mal unterwegs sein, um meiner Musik auf zigtausenden Kilometern zu folgen.
    Heute abend werde ich wissen, ob das Programm stimmt, die Arrangements gelungen sind. Alles andere kann ich nicht steuern. Erkältungen, die sicher kommen werden, technische Probleme, Ausfälle beim Orchester, was auch immer. Mit all dem werde ich in den nächsten Monaten zurechtkommen müssen, aber heute werde ich wissen, ob die Basis stimmt, ob ich das, was vor mir liegt, bewältigen kann, oder ob wir auf die schnelle einen »Notfallplan« mit massiven Umstellungen ausarbeiten und der Tournee ein ganz anderes Gesicht geben müssen als das, das ich mir wünsche. Ein Alptraum, den ich schnell verdränge.
    Das vertraute Gefühl, meinen Pulsschlag deutlich überall in meinem Körper zu spüren. Ich versuche, ruhig zu atmen. Ein Schluck Weißwein hilft. Er beruhigt.
    Der Geräuschpegel im Saal schwillt an. Viele Besucher nehmen erst in den letzten Minuten ihre Plätze ein. Noch ist es hell. Durch einen Spalt im Vorhang, der mich verbirgt, kann ich sie sehen. Eine bunte, anonyme Menge. Beinahe bis unter die merkwürdige, zirkuszeltartige Decke der Olympiahalle sitzen sie und warten
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