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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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auf etwas, das sie nicht benennen können, das ich aber erfüllen muß. Jung und alt, Tausende Menschen, jeder einzelne mit seiner eigenen Lebensgeschichte, seinen eigenen Problemen und Glücksmomenten, seinen ganz persönlichen Gründen, heute hier zu sein. Ich muß es schaffen, eine Beziehung herzustellen bis ganz oben zum letzten Rang. Alles, was ich auf der Bühne tue, muß auf die am weitesten entfernt sitzenden Menschen ausgerichtet sein. Nur wenn ich sie erreiche, kann ich in der ganzen Halle gewinnen.
    Angst versucht, in mir hochzukriechen. Ich atme dagegen an. Ich kenne sie, ich mache sie mir zum Freund, zähme sie, lasse mich nicht von ihr lähmen. Lähmende Angst wäre fatal, doch ohne gezähmte Angst kein Respekt, ohne Respekt ist man nicht glaubwürdig.
    Warum tue ich mir das an? Gerade deshalb. Nie spüre ich mich stärker. Nie weiß ich besser, wer ich bin und warum ich lebe, als in diesen Minuten, diesen Stunden - wenn es gelingt. Für Momente kann ich das Zentrum des Universums sein, unbesiegbar, frei wie ein Vogel, kann die Schwerkraft bezwingen und alles, was mir unbegreiflich
ist, abwehren, kann Berge versetzen und Luftschlösser bauen, kann Illusionen für kurze Zeit zur Wahrheit werden lassen, wenn diese Magie entsteht, die man nicht beschreiben, nur fühlen kann.
    Warum habe ich dieses Glück, mit bald siebzig Jahren das noch erleben zu dürfen?
    Um mich herum gespannte Unruhe. Geigen werden gestimmt, die Cellistin übt ein letztes Mal leise eine besonders komplizierte Passage, dazwischen Töne einer Gitarre, mein Orchesterchef Pepe Lienhard, der die Oboe einspielt. Die typische Tonfarbe eines Orchesters vor dem großen Auftritt, ein Klang, der mir vertraut ist, seit ich damals, im Klagenfurter Stadttheater, bei meinem ersten Theaterbesuch beschlossen habe, daß mein wirkliches Leben hinter diesem geheimnisvollen Vorhang stattfinden wird, hinter dem die Wirklichkeit soviel bunter, schöner, intensiver zu sein versprach. Fast 60 Jahre ist das nun her. Ein Gefühl von Demut.
    Pepe umarmt mich und lächelt mir aufmunternd zu. »Wir packen’s!« Ich nicke schweigend.
    »Einsteigen!« ruft der Technikchef Matthias Klette den Musikern zu. Sie nehmen ihre Plätze auf der Bühne ein, durch den Vorhang verborgen. Jetzt wird es ernst. Um mich herum wird es stiller. Noch drei Minuten.
    Ich schließe die Augen. Ein paar letzte Momente des Innehaltens. Splitter wie Lichtblitze aus Erinnerungen: Das Klavier mit dem Trinkgeldteller in meinen Anfangsjahren, das Gesicht meines Vaters, als er mich als Zwölfjähriger in der Nacht nach meinem ersten Theaterbesuch zum ersten Mal hat spielen hören, mein Onkel Johnny und die Freiheit seines Geradeausgehens, mein Großvater, der gestorben ist, als ich zehn Jahre alt war und der sich nicht hatte vorstellen können, daß aus diesem schwächlichen, oft kranken, verträumten Jungen etwas werden würde, der »Mann mit dem Fagott«, der meine Familie und mich immer irgendwie beschützt hat, Apollo, der Held meines Vaters, der mir hoffentlich heute abend beistehen wird und der Freiheitstanz der Schwalben, die ich als Kind stundenlang beobachtet, in deren Welt ich mich geträumt habe.
    Wie waren noch mal die ersten Zeilen des Liedes, mit dem ich beginnen werde? Jetzt ist es zu spät für Unsicherheiten und Zweifel.
Jetzt müssen die Texte präsent sein, der Ablauf, jeder Ton, den ich auf dem Klavier spielen werde. Ich versuche, mich zu konzentrieren. Fast ein Jahr lang habe ich mich auf diesen Tag, diese Monate vorbereitet, nun wird sich zeigen, ob unsere Arbeit richtig war.
    »Vorsicht, Stufe.« Alex Grabowsky, mit dem ich seit drei Tourneen zusammenarbeite, leuchtet meinen Weg auf die Bühne mit seiner Taschenlampe aus, damit ich über all die Kabel, herumstehende Kisten und dergleichen typisches Chaos, wie es überall hinter der Bühne herrscht, nicht stolpere. Noch ein Schluck Wein, dann reiche ich ihm das Glas. Er bleibt zurück, wünscht mir Glück, nickt mir ein letztes Mal zu. Nici Dumba, mein Jugendfreund, der mich auf dieser Tournee begleitet und betreut, spuckt mir über die Schulter. Er umarmt mich.
    Die nächsten Schritte muß ich allein gehen. Nun kann mir niemand mehr helfen. Nicht meine Freunde, die im Publikum sitzen, nicht mein Sohn, dem der heutige Abend gewidmet ist, nicht meine Betreuer, nur noch meine Erfahrung und das Vertrauen in die Töne, die mein Leben sind.
    Ich trete ins Dunkel. Ein Augenblick, dann blenden die Scheinwerfer auf, hüllen mich
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