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Der Mann, der zweimal starb Kommissar Morry

Der Mann, der zweimal starb Kommissar Morry

Titel: Der Mann, der zweimal starb Kommissar Morry
Autoren: Hans E. Koedelpeter
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Erinnerung an einen Mörder, der seine Sünden am Galgen büßte.
    „Ihr Tee, Hattan! Trinken Sie! Jetzt ist er noch heiß. Wollen Sie eine Zigarette dazu haben?“
    „Nein, danke“, flüsterte Joseph Hattan geistesabwesend. Er füllte eine Tasse, setzte sie an die Lippen und nahm ein paar hastige Schlucke. Nachdem er die Tasse wieder auf den Tisch gestellt hatte, blickte er seinen Wärter an.
    „Werden Sie mich begleiten, Mr. Willow?“ fragte er heiser.
    „Ja, natürlich, Hattan“, murmelte Spencer Willow mit belegter Stimme. „Es ist meine Pflicht, bis zuletzt bei Ihnen zu bleiben. Ich bekomme dafür zwei dienstfreie Tage.“
    Joseph Hattan erhob sich, strich die rote Jak- ke glatt und trat zum Fenster. Er taumelte bei jedem Schritt. Seine Haltung wirkte kraftlos und hinfällig. Hungrig hob er das Gesicht der bleichen Morgendämmerung entgegen.
    „Sie hätten ein paar Stunden schlafen sollen, Hattan“, brummelte der Aufseher gutmütig. Aber gleich darauf verstummte er wieder. Was redete er da für dummes Zeug. Hätte er selbst vielleicht in dieser Lage schlafen können? Konnte man denn ein Auge zu tun, wenn man genau wußte, daß man am Morgen vom Tod geweckt werden würde?
    Spencer Willow räusperte sich zum zehnten Mal. „Es ist bald soweit“, raunte er hastig. „Kann ich noch etwas für Sie tun, Hattan? Haben Sie Grüße zu bestellen? Wer soll Ihre Habseligkeiten erben?“
    „Niemand“, sagte Joseph Hattan gedankenverloren. „Ich habe keine Angehörigen. Das wissen Sie doch.. Mich hat niemand hier in diesem Gefängnis besucht.“
    Die letzten Minuten zerrannen rasch und unaufhaltsam. Kurz vor sechs Uhr wurde die angelehnte Zellentür aufgerissen. Zwei uniformierte Schließer traten in den kahlen Raum. Hinter ihnen tauchte der Scharfrichter mit seinen beiden Gehilfen auf. Es ging alles ganz schnell und lautlos.
    „Take it easy“, sagte ein baumlanger Wärter zu Joseph Hattan,
    „Machen Sie keine Schwierigkeiten. Wir hätten nur unnütze Arbeit, und Ihnen würde alles Sträuben doch nichts nützen.“
    Joseph Hattan machte keine Schwierigkeiten. Er ließ sich die Hände fesseln und verließ mit gesenktem Kopf die Zelle, die monatelang seine Heimat gewesen war. Ruhig ging er zwischen seinen Wärtern dahin. Er sprach kein Wort dabei. Er lehnte sich nicht auf und jammerte auch nicht. Sein Gang war wieder fester geworden. Seine Füße klebten nicht mehr schwerfällig am Boden. Er schritt rasch und ungeduldig aus, als könnte er seinen letzten Atemzug kaum erwarten. Fröstelnd trat er in den Hof hinaus. Über die hohen Mauern kam das Dämmerlicht des anbrechenden Tages. Der Himmel war blau und wolkenlos. Es würde ein prächtiger Herbsttag werden. Aber er, Joseph Hattan, würde die Sonne dieses Tages nicht mehr sehen. Die Anstaltsglocke begann zu bimmeln. Ihr Geläute klang dünn und ärmlich. Für einen Mörder, der zum Schafott geführt wurde, war es gut genug. In den langen Blöcken der Strafanstalt erhob sich jene dumpfe Unruhe, die jede Hinrichtung zu begleiten pflegt. In dichten Trauben hingen die Gefangenen an den Zellenfenstern. Sie rissen an den Gittern. Ihr Haß, ihre Verzweiflung und ihre Angst wehten wie eine düstere Welle über den Hof.
    „Nehmen Sie sich zusammen, Hattan“, murmelte Spencer Willow gepreßt. „Es ist gleich vorüber. Nur diese Stufen noch. Wenn Sie erst oben stehen, haben Sie es geschafft.“
    Joseph Hattan sah das Schafott vor sich liegen. Es wirkte häßlich und brutal wie eine Folterstätte des Mittelalters. Schwarz schälte sich das Gerüst aus dem Dämmerlicht. Eine steile Holzstiege führte hinauf auf die Plattform. Genau dreizehn Stufen führten zum Tode. Joseph Hattan zauderte ein paar Herzschläge lang. Er geriet ins Straucheln. Zwei Wärter mußten ihn stützen und die Stufen hinaufschieben. Sie drängten ihn unter den Galgen und stellten ihn auf die Falltür, die von einem schwarzen Tuch verhüllt war. Da stand er nun, ein brutaler und hinterhältiger Mörder, dessen Leben die irdische Gerechtigkeit als Sühne forderte. Er blickte hinunter in den Hof, wo der Staatsanwalt mit leiernder Stimme noch einmal das Todesurteil verlas. Neben ihm standen ein Lordrichter und der Gefängnisdirektor. Aber Joseph Hattan sah diese Männer nicht einmal. Er hörte auch die Worte nicht. Sein Herz, das in wenigen Minuten für immer Stillstehen sollte, schlug in schnellen, qualvollen Stößen. Es bäumte sich auf. Es war jung und gesund und wollte nicht sterben. Joseph Hattan
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