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Der Maler Gottes

Der Maler Gottes

Titel: Der Maler Gottes
Autoren: Ines Thorn
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Starrkrämpfe machen ihn fast wahnsinnig. Jetzt kommt die Erstickungsangst durch die Blutstauung in den Lungen dazu. Stoßweiser Atem, keuchend, pfeifend. Grünewald sieht, wie sich sein am Kreuz hängender Körper langsam blau verfärbt, die Venen anschwellen, die Finger-und Zehennägel jede Farbe verlieren, wirken, als wären sie aus grauem, uraltem Stein. Auch die Wundmale am Körper schwellen an, die Haut reißt entzwei, das darunter liegende rohe Fleisch wird sichtbar. Schweiß rinnt in Strömen an ihm herab. Er fühlt seinen Hals, sein Gesicht anschwellen. Die Nasenlöcher blähen sich in Atemnot, die Wangen hängen schlaff herab, die Lippen blau, halb geöffnet, die Zähne gebleckt. Noch immer nach Luft ringend, um jeden Atemzug kämpfend. Dazu der Durst. Nur einen Tropfen Wasser…
    Langsam verschwimmt ihm der Blick. Nur Magdalena, die zu seinen Füßen am Kreuz kniet, in unsäglicher Qual zu ihm aufschaut und dabei die Hände ringt, kann er noch erkennen. Er fühlt die Kraft aus seinem Körper rinnen wie Flüssigkeit aus einem lecken Gefäß. Auch Kot und Urin lassen sich nun nicht mehr länger halten, entladen sich in einem Schwall. Ein letzter Krampf, der hoffentlich, endlich den Tod bringen wird. Aus rauer, entzündeter Kehle die letzten Worte, die letzte Frage: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Ein neuer Hustenanfall bringt den Maler Matthias Grünewald aus dem Fieberwahn zurück in die Gegenwart seiner zugigen Kammer. Schweißüberströmt und doch am ganzen Körper zitternd, findet er sich auf dem Boden vor seinem Bild wieder, die Augen noch immer fest auf den gekreuzigten Jesus gerichtet. »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
    Fast gewaltsam löst er den Blick von seinem Bild, von seiner Magdalenenklage. Mühsam rafft er sich hoch, schwankt, taumelt, steht endlich fest, atmet mehrmals tief ein und aus.
    Dann dreht er sich um und verlässt seine Kammer. Er macht sich auf den Weg, flieht beinahe aus der Kammer in das erste Morgenlicht, hastet in Richtung Dorf. Mit eigenen Augen will er sein Bild Lügen strafen. Das, was seine Hand in der Nacht gemalt hat, soll der Morgen ungeschehen machen oder doch wenigstens wegwischen, glätten, besänftigen. Mit eigenen Augen will er sehen, dass der Gekreuzigte noch immer dort ist, wo er hingehört: in der Kirche, auf dem Altar, dem Betrachter zugewandt, der Welt zugewandt. Der Gottessohn Auge in Auge mit dem Menschenkind.
    Mühsam ist es, auf den verschlammten Wegen zu gehen. Das Tauwetter hat den Boden, der gestern noch fest gefroren war, in tiefen Matsch verwandelt, doch Matthias Grünewald bemerkt nichts davon. Die Schuhe versinken bei jedem Schritt im Sumpf, sind bald durchnässt und erdschwer. Seine Beinkleider sind bis zu den Oberschenkeln hinauf mit Dreck bespritzt. Er achtet nicht darauf. Mit nach vorn gebeugtem Oberkörper kämpft sich der Maler den Weg entlang. Er friert, obendrein hat er den Umhang zu Hause in seiner Kammer vergessen. Noch immer hockt der Frost in seinen Gliedern, noch immer fühlen sich Finger und Zehen kalt wie Steine aus alten Zeiten an. Eine Kälte, die von innen kommt, sich in seinem Innern eingenistet hat, eigensinnig dem warmen Föhnwind trotzt und auch durch einen warmen Umhang nicht zu lindern gewesen wäre. Im Laufen schlägt der Maler die Arme um sich, vergebliche Versuche, den Frost zu vertreiben, schüttelt sich, klappert mit den Zähnen. Dabei stehen Schweißtropfen auf seiner Stirn, kalter Schweiß, Fieberschweiß. Immer wieder muss er innehalten, um Atem zu schöpfen, um zu husten, zu spucken.
    Im ersten Morgenlicht, das violett, silbergrau und schwefelgelb über dem Dorf und der Burg Michelstadt-Steinbach liegt, schleppt sich Grünewald vorwärts, die Augen fest auf die kleine Kirche gerichtet, die sich langsam aus dem Grau der Nacht schält und in den Tag gleitet. Klar und immer klarer sieht der Maler die Umrisse des Gebäudes hervortreten. Und diese Klarheit scheint ihm einzige Rettung, scheint ihm Erlösung zu sein. Das Bild, seine Magdalenenklage, liegt schwer auf seinen Schultern, drückt ihn nieder, lässt ihn daran schleppen wie an einem Kreuz. Hat Gott ihn wirklich verlassen? Nein, Gott hat ihn, hat die Welt nicht verlassen. In der Kirche hängt er, über dem Altar, den Menschen zugewandt, ihre Schuld tragend. So wie immer. Unmissverständlich, klar, bestimmt. Und dorthin treibt es den Maler. Dorthin in die Unmissverständlichkeit, Beständigkeit, Bestimmtheit. Dorthin zu Glauben, Hoffnung und
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