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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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ließ, kam heimlich in allen Leben frei. Ohne zu wissen, warum, dachte sie an die tote Großmutter. Schon immer hatte sie in alten Menschen etwas beobachtet, das man nicht auf den Punkt bringen konnte, es war nicht genau die Abwesenheit von Wünschen oder Befriedigung oder Erlebnissen, ach, niemals Erlebnissen – etwas, das nur das unwägbare Durchleben sämtlicher unbegreiflicher Augenblicke des Schlafens und des Wachens zu gewähren schien. So seltsam und unmerklich waren die Kraft und die Fruchtbarkeit des Rhythmus. Nichts schien der beständigen Abfolge zu entrinnen, einer intimen Kreisbewegung, einatmend, ausatmend, einatmend, ausatmend, Tod und Auferstehung, Tod und Auferstehung. Am Ende war alles, wie es war, dachte sie fast klar, fast fröhlich – und das bedeutete ihre tiefste Empfindung von Dasein, als wären die Dinge gemacht aus der Unmöglichkeit, es nicht zu sein. Sie schien plötzlich zu begreifen, doch ohne es sich zu erklären, denn in letzter Zeit war ihre Beunruhigung gewachsen wie der Körper eines Mädchens, das erstickt die Pubertät vorausahnt.
    Sie stand auf, bewegte sich mit dem Lärm der Räder, nach vorne geneigt gegen die Fahrtrichtung des Zugs; in gewisser Weise belustigte sie die Anstrengung, die sie unternahm, und vielleicht lächelte sie deshalb, als befolgte sie irgendeine Weisung; sie ging in den Speisewagen, bestellte sich einen Kaffee, während sie sich den staubigen Hut zurechtrückte, vage die Haltung eines hochgewachsenen, großen und gutgelaunten Menschen annehmend. In ihr war ein heller Friede, offen wie ein unbeachtetes und gelassenes Feld; nach und nach vergaß sie sich selbst und ging dazu über, mit zahmer Anteilnahme die Dinge im Zug zu betrachten, eine Frau, die kaute. Seltene Funken zogen mit schneller Gewalt am Fenster vorbei, dazu das Schon-schon-schon der Räder, das so klang wie ein Geräusch im Inneren. Es wurde Abend, der Zug fuhr durch Felder, auf denen schon keine Farbe mehr lag. Der Speisewagen war fast leer, auf den schmutzigen Tischtüchern saßen Fliegen, alles war rau und trocken vor Staub. Mit einem plötzlichen Zusammenzucken bemerkte sie, wie sie losließ. Sie erforschte sich mit leichter innerer Anspannung. Etwas Unmerkliches hatte sich jedoch schon verändert. Mit einer gewissen Beunruhigung lauschte sie in sich hinein, das Sein geweckt, auf tiefe Weise unruhig. Sie sah sich beiläufig um; die Natürlichkeit der Dinge um sie herum war verschwunden wie der letzte Überrest einer lauen Schläfrigkeit, wenn man sich das Gesicht wäscht, jetzt wurde das Dasein selbst durchgeschüttelt, hart und mehrfach gebrochen. Ihrerseits fühlte sie sich im Innersten ohne Zuflucht, die Eingeweide wach, als trüge sie nasse Schuhe oder die verschwitzte Kleidung klebte ihr am Rücken – in rastlosem Widerwillen löste sie sich von der Sitzlehne. Sie begriff mit einer kraftlosen und verblüfften Enttäuschung, während schon der Anfang einer tiefen Müdigkeit in ihren Augen aufstrahlte, begriff, dass sie zu keinem Besitz gelangt war, die Fahrt in die Stadt war nicht symbolisch. Und die Empfindung, die sie vor wenigen Minuten gehabt hatte?, tastete sie hoffnungsvoll. Aber nein, nein – und sie war nicht in der Lage, ihre eigenen Gedanken zu begreifen –, in Wahrheit hatte das, was in ihr unberührt, wach und verwirrt war, noch Kraft genug, um eine Zeit des Wartens entstehen zu lassen, die länger wäre als diejenige von ihrer Kindheit bis in die Gegenwart ihrer Tage, in solchem Maß war sie nirgends angekommen, aufgelöst, wie sie lebte – das erschreckte sie, müde und verzweifelt vom eigenen unsteten Fließen, und das war etwas schrecklich Unleugbares, und doch erleichterte es sie auf eine seltsame Art, wie das allmorgendliche Gefühl, in der Nacht nicht gestorben zu sein. Mit einer unbemerkten Geste der Mutlosigkeit fragte sie sich wirr, ob sie für immer vergessen würde, was sie als so fest und gelassen empfunden, aber jetzt konnte sie nicht mehr klar greifen, wie es gewesen war, in einem Anfang des Vergessens. Nein, sie würde nicht vergessen, klammerte sie sich an sich selbst, ohne es zu wissen, nur, wie sollte sie es benutzen? wie davon leben? Sie würde es niemals aufbrauchen können, und auch das ließ sich nicht leugnen, der Zug zog sie voran, als verlöre er sie für sich selbst, die Räder schnauften, der Kellner folgte mit dem Körper den Bewegungen des Waggons, brachte sich ins Gleichgewicht, verlor es wieder, der Kaffee war heiß, ja, gewiss war
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