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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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jetzt war sie lediglich eine Frau, schwach, aufmerksam, ja, die im Verborgenen ein Alter begann, das jemand Reife nennen mochte. Irgendein klareres Wort kam ihr, das sie beinahe dem wahren Gedanken annäherte, und da sah sie sich, ohne sich zu begreifen, im Fenster gespiegelt, und studierte ihre Erscheinung. Ihr eigenes Gesicht hatte an Bedeutung verloren. Sie setzte sich zurecht, machte es sich bequem. Rauchte weiter und dachte auf unerklärliche Art, ohne sich zu erreichen. Und wirklich, wie sollte sie jemals ahnen, was ununterbrochen im Seiendsten ihres Körpers ablief? … Die Empfindungen hatten ihr immer Halt gegeben, mit leichter, andauernder Kraft, und so war sie bis zum gegenwärtigen Moment gelangt. Selbst in diesem Augenblick hätte sie, wenn sie tief innegehalten hätte, noch ursprüngliche Eindrücke ausmachen können, die abliefen wie feine Geräusche reine Worte Klang, das Meer, das Schaum bringt am verlassenen Strand, vielleicht als Erinnerung, vielleicht als Vorgefühl, das Sein selbst, durch die Schläue seiner Abgelenktheit hindurch, flüsternd wesentlich, sich auflösend sich zusammensetzend sich erhebend: waschen, in die Sonne hängen, das Feuchte verliert seine Feuchtigkeit, die neue Haut weich glänzend im Schatten, waschen, in die Sonne hängen, das Feuchte verliert seine Feuchtigkeit, die neue Haut weich glänzend im Schatten, waschen, in die Sonne hängen, das Feuchte verliert seine Feuchtigkeit, die Haut hellt sich auf, waschen, in die Sonne hängen, die Feuchtigkeit verlieren lassen, waschen … Matt von der Zigarette, weigerte sie sich, weiterzugehen. Vielleicht war da ein Bezug zu etwas Ernstem und Tiefem, das ihr Sorgen machte; oder das ihr vielleicht keine Sorgen machte, das einfach nur mit seinem natürlichen Leben fortfuhr wie das Herz, das jetzt schlägt, sobald sich der vergangene Augenblick fortsetzt. Der Sinn dieser abgelagerten Empfindungen war unklar und erfüllte sich als vollkommenes Rätsel; seine Entfaltung verschaffte ihr keine Lust, sie machte sie auch nicht müde, sie wurde davon weder glücklich noch unglücklich, das war der Mensch selbst, der lebte, und sie sah durchs Zugfenster, überschlug, wie lange es noch dauern würde bis zum nächsten Bahnhof, im Wunsch, endlich aufzustehen und sich ein wenig die Beine zu vertreten, die müde waren von der mangelnden Bewegung. Ach, der Lüster. Sie hatte vergessen, nach dem Lüster zu schauen. Ihr schien, dass sie ihn vielleicht weggeräumt hatten, oder sie hatte keine Zeit gehabt, ihn mit den Augen zu suchen. Vor allem hatte sie auch vieles andere nicht gesehen. Der Gedanke kam ihr, dass sie ihn für immer verloren hatte. Und ohne sich zu verstehen, das Gefühl einer gewissen Leere im Herzen, schien ihr auch noch, dass sie nun wirklich eine von ihren Sachen verloren hatte. Wie schade, sagte sie überrascht. Wie schade, wiederholte sie sich reuevoll, das war ein Fehler. Der Lüster … Sie sah aus dem Fenster, und in der heruntergeschobenen dunklen Scheibe sah sie, gemischt mit dem Abbild der Sitze und Leute, den Lüster. Sie lächelte zerknirscht und schüchtern. Der Lüster, federlos. Wie ein großer, zitteriger Kelch Wasser. Die leuchtende, haltlose Durchsichtigkeit in sich aufnehmend, der Lüster erstmals ganz erhellt in seiner blassen und eisigen Orgie – unbewegt in der Nacht, die zusammen mit dem Zug hinter der Scheibe dahinlief. Der Lüster. Der Lüster. Ohne sich zu begreifen, trat sie sorgfältig die Zigarette aus, mit dem harten Absatz ihres Schuhs, als spürte sie durch ihn hindurch die Wärme der Glut an der Ferse, und da war wieder der konfuse Eindruck. Dass sie am Ende gelebt hatte, wenn auch unberührt von den Ereignissen, dass sie irgendeinen Moment gehabt hatte voller Sinn – die reine Empfindung kam und ging mit einer Spur von Staunen, und in Wahrheit würde sie niemals denken können, was sie erlebte. Wie ohne Grund fiel ihr ein, dass sie als Kind immer gespielt hatte, sich möglichst nicht zu bewegen, so wie alle Kinder, die das bereits vergessen hatten; sie verharrte dann, duldend; die Augenblicke pochten im angespannten Körper, noch einer, noch einer, noch einer. Und plötzlich war die Bewegung unwiderstehlich, etwas, das sich unmöglich zurückhalten ließ, wie eine Geburt, und sie führte sie aus, etwas Elektrisches, Jähes und Knappes. Auf konfuse Weise lag in allem, was sie kannte, ebendieser Moment einer unbezähmbaren Verwirklichung. Und wer weiß, die Geste, die sich nicht beherrschen
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