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Der Lüster - Roman

Der Lüster - Roman

Titel: Der Lüster - Roman
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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ein, dass er es nicht leiden konnte, wenn man ihm etwas aufnötigte, dass am Tisch er das Sagen hatte, er derjenige war, der zum Essen aufforderte und zwang. Der Alte gab keine Antwort, hielt ihr nicht den Teller hin. Ohne zu wissen, wie sie fortfahren sollte, sagte sie noch einmal, sich ihm dunkel als Tochter anbietend, verstört darüber, dass sie weiter in ihn drang, doch ratlos, welche Richtung sie sonst einschlagen sollte:
    »Und Reis?«
    »Mir muss keiner sagen, was ich zu essen habe«, sagte er schließlich, »ich weiß selbst, was gut für mich ist«, schloss er widerspenstig.
    Überrascht, aber das war nun mal der Vater – schüchtern sah sie ihre Familie an … Papa, Papa, so wie du bist, stirb bitte nie … wie dumm sie doch war, sagte sie sich etwas unvermittelt, nahm Haltung an und wandte sich entschlossen dem Essen zu. Am Ende der Mahlzeit schien etwas zu weichen wie Nebelschwaden, die sich auflösen, und die Wirklichkeit stieg auf, fast ähnlich der Wirklichkeit vor dem Spaziergang. Die Szene hatte man schon früher gesehen, sie war die des täglichen Abendessens – Virgínia fühlte sich gelassener, gleichgültiger. Sie erinnerte sich an den Gang durch die Dunkelheit, spürte ihn in sich wie einen Punkt, der noch schmerzte, weich, wie einen unerklärlichen Ort, an den man zurückkehren konnte; sie schob den Gedanken sofort mit einer Handbewegung beiseite, aber schon überlegte sie: Wer weiß, ob ich das nicht zu schlimm genommen habe, vielleicht war mir nur unwohl. Doch auf einmal wurde der Strom immer schwächer, die Lampe erlosch fast, und in diesem Halbdunkel voller Wind hielten alle inne, die Gabel in der Hand, die Augen aufmerksam nach oben gerichtet. Die Mahlzeit war unterbrochen. Dann, mit einem Ruck, ging das Licht wieder an, kraftvoll, eine glänzende Klarheit, die sich über den langen Tisch ergoss und über die Gesichter … Die Wirklichkeit kam ganz zum Vorschein, etwas ging zu Ende – die Familie nahm die Mahlzeit wieder auf. Reuig, wütend auf sich selbst, konnte Virgínia nicht anders als festzustellen, wie ruhig und ungerührt sie war. Aber sie würde für immer auf der Granja bleiben!, dachte sie glühend und hart, es tat ihr weh. Es war merkwürdig, dass sie die anderen so sehr liebte, dass sie den Schmerz nicht ertrug, sie sich tot vorzustellen, und doch war sie gewillt gewesen, ja, doch wollte sie weg. Dann standen sie auf, die Eltern gingen nach oben, Daniel aus dem Haus, Esmeralda und sie setzten sich auf die Schaukelstühle im Nebenraum, ohne zu sprechen. Der kleine Raum, der hinter dem Esszimmer lag, empfing von dort etwas Licht und bekam im Schatten etwas beinahe Stilles; er war das wärmste Zimmer im Haus, das kleinste und gemütlichste. Virgínia sah, wie Esmeralda die Augen schloss und sich zusammenkauerte, die Spitzen ihres dunklen Schultertuchs eng über die Brust gezogen. Sie selbst fing an, sich sanft zu wiegen, die Hände auf den geschwungenen Armen des Stuhls, die Augen zur Decke gerichtet, unbewusst aufmerksam für die Schaukelbewegung. Sie liebte und verstand die Leute immer mehr, und doch wurde ihr immer klarer, dass sie sich von ihnen zurückziehen sollte. Aber sie musste bleiben, bleiben… Esmeralda kam ihr so alt vor … wie war ihr das nicht früher aufgefallen? die breiten Lider gesenkt mit einer Nachlässigkeit, die verstörte, die Beine angezogen auf dem Stuhl, völlig in sich gekauert, als wäre ihr kalt und sie hätte Fieber, so welk, so viel kleiner, als sie tatsächlich war. Aber wenn sie nach ihr gerufen hätte, wäre ein gereiztes Raunzen zurückgekommen. Ja, bleiben, dem Ende dieser Leben beiwohnen, mit denen sie geboren war, die vergessene Kindheit zurückholen durch die Erinnerung vor Ort, auf dem Hof wohnen, wo sie ihre größten Augenblicke gehabt hatte, zurückerobern, zurückerobern. Sie schaukelte eilig, eilig, leicht. Aber mit der Hartnäckigkeit einer Welt, die mit machtlosen Augen vor der Gefahr warnt, fühlte sie, ohne es recht zu begreifen, dass der Ort, an dem man glücklich gewesen ist, nicht der Ort ist, an dem man leben kann. Sie schloss die Augen, während sie schnell und sanft weiterschaukelte, und in ihrem Innersten war die Notwendigkeit, fortzufahren, im Tiefen wiegte sie sich, angespannt und sanft, im Tiefen war es nötig, fortzufahren mit dieser unsagbaren Vervollkommnung, die niemals einen noch höheren Punkt erreichen würde, sondern just in der Fortsetzung der Augenblicke lag. Was war wohl das innere Begreifen
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