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Der Letzte Tag Der Schoepfung

Der Letzte Tag Der Schoepfung

Titel: Der Letzte Tag Der Schoepfung
Autoren: Wolfgang Jeschke
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als Anatom wirkte. Sein Ruhm drang weit über die Grenzen seiner Wahlheimat hinaus.
    Inzwischen ruhte das Musikinstrument des hl. Vitus in seinem Silberschrein, widerstand dem Zahn der Zeit, überdauerte die Jahrhunderte und geriet fast in Vergessenheit.
    Als 1938 der Schrein anlässlich der Tausendjahrfeier von Sta. Felicità erneut geöffnet und das hl. Glied den Blicken des Publikums preisgegeben wurde, nahm ein gewisser Luigi Risotto, Gymnasiallehrer in Tarent und im Ersten Weltkrieg an eben jener Stelle versehrt wie einst der berühmte Abaelard zu Paris, die Reliquie besonders gewissenhaft in Augenschein. 1939 erschien im Tarentiner Blättchen für Lehrerbildung ein Aufsatz, in dem Luigi Risotto die Echtheit der Reliquie entschieden bezweifelte. Er nannte es einen ungeheuren Skandal, dass die katholische Kirche sich noch im 20. Jahrhundert erdreiste, ein Stück Schlauch, noch dazu dieser Länge und Beschaffenheit, als Geschlechtsteil eines Heiligen auszugeben und verehren zu lassen. Das sei Fortschreibung des finstersten Mittelalters und eine unverschämte Verdummung des einfachen gläubigen Volkes, und das zu einem Zeitpunkt, da die große Kulturnation Italien sich anschicke, auch politisch eine der bedeutendsten Nationen der Welt zu werden. Eine Schande sei das, ereiferte er sich.
    Bei dem Ding handle es sich, so führte Risotto weiter aus, um nichts anderes als um ein geripptes Stück Schlauch aus hart und brüchig gewordenem Gummiharz, wahrscheinlich das Verbindungsstück einer Wasserpfeife maurischen Ursprungs. Ihm entging in seinem aufklärerischen Elan und seiner einfältigen Gelehrsamkeit, dass dieses Stück Gummi bereits im zehnten Jahrhundert urkundlich erwähnt und 1303 als Reliquie sanktioniert wurde, die Mauren aber erst um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts mit dem Rauchtabak Bekanntschaft machten. Und was die Wasserpfeife betrifft: Sie wurde erst 1612 erfunden, und zwar von einem geschäftstüchtigen Kaffeehausbesitzer namens Ziad Kawadri zu Damaskus, der nach längerem intensiven Nachdenken die Nargileh zur gesteigerten Behaglichkeit der Gäste in seinem Lokal ersann. Von Damaskus aus trat dieser Quell orientalischer Behaglichkeit gurgelnd und blubbernd seinen Siegeszug an durch die muselmanischen Länder bis Budapest und Casablanca, bis Dar-es-Salam und Hyderabad.
     
    Seit 1961 war auf Anweisung Johannes XXIII. eine vatikanische Gelehrtenkommission tätig, um in aller Stille den Reliquien-Dschungel auszuforsten. Es sollten in erster Linie all jene Fälle untersucht werden, die der Verehrung unwürdig, weil abgeschmackt, peinlich oder gar lächerlich seien. Im Verlauf von mehr als fünf Jahren hatte die Kommission 3786 derartiger Fälle zusammengetragen, von denen 1284 tunlichst sofort dem Vergessen anheim gegeben werden sollten. 1544 weitere, von deren Duldung auf längere Sicht abzuraten sei, sollten offiziell unerwähnt bleiben, und 958, die zwar stillschweigend geduldet werden könnten, sollten schließlich nur in Ausnahmefällen offiziell erwähnt werden.
    Ein unerwartetes Ergebnis dieser Nachforschung war, dass in mehr als tausend Fällen die Reliquie aus einem Material von schmutzig weißer bis gelblich brauner Färbung bestand, das - wie die Beschreibung regelmäßig lautete - wie sehr altes, rissiges Elfenbein aussehe.
    Die päpstliche Kommission erbat Proben von diesem Material und übergab sie dem physikalischen Kabinett des Vatikans, wo sie mit modernsten Methoden - unter anderem auch der Radiokarbon-Methode - untersucht wurden. Dabei machte man eine weitere überraschende Feststellung. Sämtliche Tests nach der Radiokarbon-Methode verliefen negativ, und das konnte nur eines bedeuten: Handelte es sich um organisches Material, also Knochen oder Elfenbein, Gummi oder selbst Bernstein, dann mussten sämtliche Proben älter als 30 000 Jahre sein, denn weiter reicht die Datierung nach diesem Verfahren nicht in die Vergangenheit zurück. Wahrscheinlich waren die Proben sogar älter als 100 000 Jahre. Also konnte es sich weder um den Zeigefinger des Propheten Jeremias, noch um die Schädeldecke Johannes des Täufers, weder um das rechte Fußknöchelchen der hl. Genoveva, noch um das Brustbein des hl. Paulus handeln.
    Die Flöte des hl. Vitus - wie nicht anders zu erwarten, unter den peinlichen, tunlichst sofort dem Vergessen anheim zu gebenden Reliquien eingereiht - wich zwar in Färbung und Konsistenz von der Fülle des anderen Materials ab, wies jedoch, als man sie später ebenfalls
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