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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer
Autoren: Christian von Aster
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Entsetzen. Jetzt erst begriff ich, was überhaupt geschehen war. In diesem Zimmer. Diesem Kinderbett: Jonas Mandelbrodt hatte mich gehört, meinen Schrei, den Schrei eines Schattens, einen unwirklichen tonlosen Schrei aus Zwielicht und geronnenem Dunkel, beinahe nicht vorhanden und schier unhörbar für ein gewöhnliches Menschenohr!
    Keiner von euch hat je von Geburt an unsere Sprache gesprochen. Keiner vermochte, uns ohne Studium der alten Schriften zu verstehen! Wir sind für euch nicht mehr als ton- und inhaltslose Schemen, leere Abbilder. Dass Jonas mich heute Nacht gehört hatte, schien mir nicht weniger als ein Wunder zu sein. Ungläubig ruhte mein dunkles Auge auf dem Kind, das mich keck musterte, während seine Mutter den trunkenen Peiniger von unserer Schwelle vertrieb.
    Kaum, dass der Unhold fort und die Tür in seinem Rücken verschlossen war, kam sie wieder zu uns. Sie weinte. Um ihr rechtes Auge wucherte ein dunkler blauer Fleck. Aber als sie Jonas sah, lächelte sie wieder. Ein stilles Lächeln, gequält und mit dem bitteren Beigeschmack enttäuschter Hoffnung, doch in seinem tiefsten Wesen glücklich.
    Sie nahm uns auf den Arm und drückte Jonas eng an sich.
    Der Mann, an dessen Seite sie in dieser Nacht schließlich einschlief, war klein.
    Das Glück aber, das sie dabei umfing, war größer als jenes, das die erwachsenen Männer dieser Welt in ihr hätten wecken können. Und ebendas war es, was ich spürte, als jene beiden in den Schlaf glitten und auch mir ein wenig Ruhe zuteil wurde. Und während ich schwand, wusste ich, dass sich von heute an alles verändern würde.
    Denn in dieser Nacht hatte ich erkannt, dass mein Schützling eine unglaubliche Gabe besaß. Ich ahnte, dass er womöglich eine Aufgabe hatte, zu etwas Großem ausersehen war, und ich wusste, dass ich eherne Regeln verletzen würde. Ich würde tun, was noch nie einer von uns getan hatte. In dieser Nacht beschloss ich, Jonas Mandelbrodt zu stärken und vor allem Unbill zu schützen. Entgegen aller uns bindenden Gesetze würde ich ihn, meinen Herrn, Dinge lehren, die wir Schatten gewöhnlich für uns bewahren, und die zu erfahren einige eurer besten Magier ihre Seele gegeben hatten …

    Am Ende der Welt, im Herzen des Kaukasus, am Fuß einer Treppe, vor Urzeiten von jenen in den Fels geschlagen, die den Schatten als Erste gedient hatten, lag ein Raum in völliger Dunkelheit.
    An diesen Ort, die tiefste Höhle der Welt, war noch nie ein Sonnenstrahl gedrungen, hier hatte noch nie ein Licht geschienen. Denn diese Höhle war einzig und allein dafür geschaffen worden, dass sich in ihrem Dunkel alte Schatten mit sonderbaren Schatten verbanden. So taten sie es von alters her. Die Schattenmagier aller Schulen und Traditionen – wer immer die Sprache der Schatten beherrschte, in ihnen wandelte und ihre Geheimnisse kannte – kehrten hier ein. Früher einmal waren sie mehr gewesen, in alten Zeiten sogar viele. Doch heute wie einst formten sie den Rat der Schatten, dessen dunkles Auge auf den Geschicken der Welt ruhte.
    Hier, in diesem Raum aus Nacht, am Fuß der Treppe am Ende der Welt versammelten sich die Mitglieder jenes Rates. Mochte in der Welt auch einer über dem anderen stehen, hier waren sie gleich, hier mischten sich ihre Schatten und es gab keine Geheimnisse mehr. Denn was einer von ihnen wusste, das wusste auch sein Schatten, und in eben diesen mischte sich das Wissen des einen mit dem der anderen.
    Auch in dieser Nacht fanden sie ihren Weg in die Höhle.
    Fünf Schatten glitten die Treppe hinab. Fünf Schatten, geformt aus Macht und Dunkel. Schatten, die sich nicht mit den gewöhnlichen vermischten. Die Schatten der Großmeister.
    Sie ergossen sich in das Dunkel der Höhle, erfüllten das undurchdringliche Schwarz mit einer Ahnung von beinahe noch schwärzer scheinendem, schemenhaftem Leben und vermengten sich kraft ihres Willens zu einer einzigen vollkommenen Schwärze. Und dann begannen die Schatten, leise und mit unhörbaren Stimmen in einer Sprache zu raunen, welche die wenigsten verstanden. Sie flüsterten von Dingen, die den meisten auf ewig verborgen bleiben würden. »Ein Schatten hat beschlossen, sich über die Ordnung hinwegzusetzen …«, ergossen die Gedanken des ersten sich ins Dunkel der übrigen. Die Stimme – denn um eine solche handelte es sich, obwohl keinerlei hörbare Laute geäußert wurden – klang seltsam und hatte etwas eigentümlich Irritierendes an sich, während sie derart kalt und scharf war, dass
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