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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer
Autoren: Christian von Aster
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im Geist die Grenzen seiner Zukunft abgesteckt und wartete auf die ruhigen Wogen eines belanglosen Menschenlebens.
    Dann aber klärte sich eines Tages der Blick meines Herrn, und er war wirklich angekommen. Mit einem Mal existierte da jemand hinter seinen Augen. Das aber war an sich nicht das Verwunderliche. Auch dass er mich nun wahrnahm war alles andere als seltsam. Selbst dass er bei meinem Anblick erschrak war nicht ungewöhnlich. Sogar, dass er deswegen schrie, war es nicht. Dieser Schrei aber war wie keiner, den ich je zuvor gehört hatte: Ein Ruck ging durch den Leib des Kindes, und Jonas schrie aus Leibeskräften, derart laut und markerschütternd, dass es mir schien, als ob eine unbändige Macht mich von ihm fortreißen wollte!
    Im Stimmchen jenes Säuglings lag eine Kraft, dass sein Schrei den Posaunen Jerichos zur Ehre gereicht hätte! Und wenn auch nicht das Haus zu Schutt und Asche zerfiel, so eilten doch Hund und Mutter bestürzt herbei und sahen verwundert, wie das Kind in seinem Bettchen vor mir zu fliehen versuchte. Es versuchte davonzukommen, sich loszureißen von seinem Schatten, mich hinter sich zu lassen und mich in die gegenüberliegende Ecke seines Bettes zu bannen. Inzwischen bin ich mir sicher: Hätte seine Mutter nicht nach ihm gegriffen, und wäre ihm die Wärme ihrer Brust nicht ein Grund gewesen, von mir abzulassen, es wäre ihm gelungen. Er hätte mich abgestreift, und ich hätte mich, meiner Bestimmung beraubt, in den Kissen jenes Bettes verloren. Ein namenloser Schatten im Nirgendwo, dazu verdammt, bis zum Tod seines Herrn in der Welt umherzuirren, ohne zu irgendetwas oder irgendwem zu gehören …
    Dies war also meine erste Begegnung mit jener unglaublichen Kraft, die Jonas Mandelbrodt innewohnte; die zu vervollkommnen er sein ganzes kurzes Leben brauchen würde und die mich bald schon all die großen Magier und Alchemisten vergessen lassen würde.
    Der Hund war dabei der Einzige, der mir mein ungläubiges Staunen ansah. Denn während sein linkes Auge komplett blind war, sah er mit seinem inneren doch derart viel, dass ich lieber ihm als dem größten Teil der Menschheit gedient hätte.
    Ich hoffe, ihr werdet mir verzeihen, dass ich von eurem Leben weder viel verstehe noch halte, aber jener Hund und ich brauchten nach diesem Ereignis nur wenige Tage, um uns zu verständigen. Gemeinsam fällten wir den Entschluss, Jonas Mandelbrodt als unser Heiligstes zu betrachten und ihn zu lieben, wie man eine Menschenseele, die noch keine Gelegenheit hatte, sich zu versündigen, nur lieben kann. Wenn ich schlief, wachte Argos, wenn er schlief, wachte ich, und Jonas Mandelbrodt genoss den Schutz guter Mächte.
     
    Er gewöhnte sich an mich. Ebenso wie er sich an Brust, Brei und Mittagsruhe gewöhnte, die seit ehedem das Leben eurer Neuankömmlinge bestimmen.
    Mit dem mittäglichen Schlummer tat er sich schwerer als mit mir, denn Jonas Mandelbrodt wollte wissen. Kaum dass in seinen Augen jene kleine Ahnung des Bewusstseins leuchtete, da huschte sein Blick umher und saugte an der Welt, als ob er sie ganz verschlingen wollte. Mitunter fielen seine Augen dabei auch auf mich. Und wenn im Blick eines Säuglings so etwas wie Irritation zu liegen vermochte, dann war er stets, sobald er mich erkannte, eben dies: irritiert . Doch recht bald begriff er, dass ich da war, blieb und sein würde. Dass er und ich durch ein Band miteinander verbunden waren, das mich ihm näher noch als seine Mutter sein ließ. Dennoch versuchte er, kaum dass er sich die niederen Weihen der Fortbewegung erschlossen hatte, immer wieder vor mir davonzukrabbeln. Auch wenn er meine Existenz akzeptieren musste, so mochte der kleine Jonas es dennoch nicht, mich sehen zu müssen. Ich schien ihn zu stören, ihm zu missfallen. Und als er begriff, wie sich unsereiner zum Licht verhält, wandte er mir den Rücken zu und ließ mich, wann immer er konnte, hinter sich fallen.
    Diese einfachen Gesetze der Schatten erkannte er, bevor er noch sein erstes Wort gesprochen hatte. Beinahe als wäre ich das Problem gewesen, das zu lösen er seine gesamte Energie aufgewendet hätte. Als hätte er, bevor er zu wachsen begann, zunächst einmal mich aus dem Sinn haben müssen. Während er aber versuchte, mich hinter sich zu lassen, blickte er doch von Zeit zu Zeit über seine Schulter zurück, um sich meiner zu versichern.
    Es schaudert mich schwärzlich, wenn ich daran zurückdenke. Denn nie zuvor war mir ein Kind begegnet, das die Gesetze der Schatten
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