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Der letzte Abend der Saison

Der letzte Abend der Saison

Titel: Der letzte Abend der Saison
Autoren: Ake Edwardson
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Alter. »Heute Morgen? Warum verdammt noch mal bist du nicht hergekommen?«, fragte er und schwang die Beine aus dem Bett, ohne dass er wagte, mich anzusehen.
    »Du warst nicht hier«, erwiderte ich.
    »Ich war nur kurz weg. Du hättest doch warten können.«
    »Ich hatte keine Zeit.« Ich hatte angefangen zu weinen, aber still, ohne mich zu bewegen, so wie er, als er auf dem Rücken im Bett gelegen hatte. »Ich musste zurück, weil ein Arzt kam und die Leute vom Beerdigungs…«
    »Ja, ja«, sagte er. Er stand auf und rieb sich kräftig das Gesicht. Das Schaben der Hände auf der unrasierten Haut hallte im Zimmer wider.
    »Oh, verdammte Scheiße«, sagte er und ging plötzlich schnell in die Küche, wo ich hörte, wie seine Kotze den Ausguss und das Spülbecken traf. Der Wasserhahn lief. Er räusperte sich lange. Die Kühlschranktür wurde geöffnet und er kam mit zwei Flaschen Bier zurück. Er gab mir die eine, ehe ich noch den Kopf schütteln konnte. Er sah mich an. Eine oder mehrere Äderchen in seinem Auge waren geplatzt.
    »Was ist passiert?« Er trank aus der Flasche. »Sie war doch nicht krank.«
    »Ein Autounfall.«
    »Ein Autounfall? Heute Morgen, sagst du?«
    »Ja.«
    »Sie hat kein Auto. War es ein Zusammenstoß?«
    »Ja.«
    »Ein Unfall? Sie saß in dem Auto?«
    »Sie war im Auto eingeklemmt.«
    »Im Auto eingeklemmt? Heute Morgen?«
    »Sie fuhr im Auto mit einem Typen, den ich nicht kenne, der heute Morgen mit einem anderen Auto zusammengestoßen ist, und alle, die da waren, sind umgekommen, du verdammter, verdammter …«, schrie ich, stand auf und trat gegen das Foto, so dass es an die Wand flog und zerbrach. In der Sekunde danach wurde mir klar, was ich getan hatte, und ich lief die paar Schritte zur Wand und kniete mich hin zwischen die Scherben und hob den Rahmen hoch. Ich fing an, die größeren Glasstücke in den Rahmen zu legen, von links, und nach einer Weile bedeckten sie meinen Vater und mich, aber als ich meine Mutter bedecken wollte, waren nur noch kleine Scherben übrig, wie die Tabakkrümel am Bett.
    »Pass auf, dass du dich nicht schneidest«, sagte mein Vater vom Bett her.
    »Halt die Schnauze«, antwortete ich, aber meine Stimme war schwach.
    »Lass es liegen, wir sammeln es nachher auf«, sagte er. »Wir kaufen einen neuen Rahmen.«
    »Wir? Das muss in diesem Fall ja wohl ich sein.«
    Ich stand auf und trug den Rahmen und das Foto und das Glas zur Kommode. Gleichzeitig ging mein Vater in die Küche und holte mehr Bier.
    Er musste an den Tod im Auto gedacht haben, an das, was mit meinem Bruder geschehen war. Daran, wie unser Leben danach geworden war, an den Ersatz von einem Leben, das wir gelebt hatten. Wir hatten uns in unserer eigenen Landschaft aufgehalten, die doch fremd war. Wir konnten uns bewegen, aber nicht weit genug weg. Wir wurden niemals frei.
    »Ich muss gehen.«
    »Karl …«
    »Jetzt weißt du es.«
    »Du kannst jetzt nicht allein sein, Karl.«
    Wir sahen einander über das Bett in seinem Schlafzimmer an, das immer noch nach Alkohol und Tabak roch. Wir standen ein jeder auf seiner Seite an einem Abgrund, unsere Stimmen waren fast nicht zu hören und die Worte kamen nicht an, sie fielen wie Steine in die Schlucht. Weder die Stimmen noch die Worte hatten genug Kraft, um den ganzen Weg zwischen uns zu tragen. Wir hatten nie lernen können, wie man das machte, wie die Worte Bedeutung bekommen konnten. Ich wusste, dass sie noch da unten auf dem Grund lagen, aber wir kamen nicht an sie heran, um sie wieder zu verwenden. Etwas mit ihnen zu tun. Wir hatten keine Worte. Es lag nicht nur daran, dass wir Jungen und Männer waren. Es war etwas anderes.
    »Ich gehe jetzt«, sagte ich.
    »Gehst du nach Hause?«
    »Ja.«
    »Ich kann da nicht hingehen.«
     
    Ich verließ ihn. Ich nahm die Fotografie und den kaputten Rahmen mit. Ich wusste, dass er dankbar war, dass ich es tat. Das würde er nie sagen.
    Es hatte sich bewölkt und aus der Dämmerung war Abend geworden. Von der schwachen Beleuchtung lag eine pissgelbe Haut über der Ortschaft. Die war wie unsere Worte, reichte nirgendwohin, war zu nichts nutze.
    Ich ging zum See hinunter. Durch die verrußte Luft konnte ich die beiden weißen Pferde schimmern sehen, als sie sich links auf der Landzunge bewegten. Ich warf einen Stein in den See und sie stürzten sofort zwischen die Bäume und waren fort. Der Geruch von Rauch kam mit dem Wind von den alten Häusern am Nordende des Sees. Ein Auto fuhr auf der Straße vorbei, beleuchtete den
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