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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten
Autoren: Alexandra von Grote
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Tochter, die ihr regelmäßig Blumen schenkte. Guy Thinot mochte Marguerite. Sie war eine zurückhaltende Person, dezent in ihrer Art, ja, beinahe menschenscheu. Dass sie als Frau wenig Attraktivität ausstrahlte, sich sogar mit zunehmendem Alter äußerlich ein wenig vernachlässigte, erschien ihm unwichtig. Für Guy war sie jemand mit sozialem Gewissen und Verantwortungsgefühl. Ein Mensch, der seine alte Mutter nicht im Stich ließ. Ob sein Sohn sich später auch einmal so um seine Eltern kümmern würde? Heutzutage galten die traditionellen Werte nicht mehr viel. Kinder waren oft selbstsüchtig und scharf aufs Erbe. Doch man musste Vertrauen haben. Serge würde sich gewiss als guter Sohn erweisen.
    Er deutete eine galante Verbeugung an und grüßte.
    »Madame Brancard …«
    »Guten Tag, Monsieur.« Ihre Stimme war leise, ein kleines Lächeln zeigte sich. Nach kurzen Zögern ging sie weiter, und Guy gesellte sich zu ihr.
    »Scheußliches Wetter, was?«, sagte er und schlug den Kragen seiner Jacke hoch. »Wenn der Wind nicht wäre, würde es schon regnen. Aber das kommt noch!«
    Marguerite nickte und warf ihm einen kurzen Blick zu.
    Gleich darauf erreichten sie die Bank. Guy beeilte sich, die Tür aufzudrücken und Marguerite den Vortritt zu lassen. Gut gelaunt meinte er: »Wie ich sehe, haben wir das gleiche Ziel. Bitte!«
    »Danke, Monsieur Thinot. Sehr freundlich.«
    Er fiel gar nicht weiter auf. Ein junger Mann wie viele andere, in tarngrünen Cargohosen, einem dunklen Anorak und Doc-Martens-Stiefeln. Gleich gegenüber vom Eingang der Bank schlenderte er den Bürgersteig entlang. Er presste sein Handy ans Ohr und tat so, als telefonierte er. Dabei lachte er, sagte »Ja, ja« und »Vielleicht, mal sehen«, und behielt währenddessen aus den Augenwinkeln die Straße im Blick. Autos fuhren vorbei. Zwei Passanten eilten an ihm vorüber. Niemand kümmerte sich um ihn.
    Der dunkelblaue Rucksack, den er lässig über die Schulter geworfen hatte, sah relativ neu aus. Und das war er auch. Letzte Woche in einem Billigladen am Boulevard de Clichy gekauft, eigens für diesen Zweck. Vor dem Schaufenster eines Trödelladens, der geschlossen hatte, blieb er stehen. Weiterhin sein Telefonat vortäuschend beobachtete er im Spiegel der Schaufensterscheibe den Eingang des Geldinstituts. Zeitig am Morgen hatte er den schwarzen Motorroller direkt vor der Bank abgestellt, zwischen dem Briefkasten und der jungen Platane, die an der Ecke gepflanzt war. Danach hatte er sich aus der unmittelbaren Umgebung der LCL zurückgezogen, damit er nicht auffiel. In einem Café einige Straßen weiter hatte er einen Kaffee getrunken und gegen zehn die Besuchertoilette im Erdgeschoss des Hôpital Saint-Antoine benutzt. Seit einer Viertelstunde waren das Terrain rund um die Bank gecheckt und die Kunden registriert, die die LCL betraten und verließen. Jetzt, wenige Minuten vor zwölf, herrschte verhältnismäßig wenig Betrieb. Die Bank würde gleich schließen. Es war Zeit zu handeln. Er beendete sein gefaktes Telefonat und steckte das Handy in die Anoraktasche.
    Ein euphorisches Gefühl durchströmte ihn. Er war hellwach und voller Power. Bevor er am Morgen losgezogen war, hatte er sich eine anständige Prise reingezogen. Die Wirkung der heutigen Dosis würde erst nach elf bis zwölf Stunden nachlassen. Dann brauchte er Nachschub. Im Rucksack steckte noch eine weitere Ration. Zwölf Stunden … Das war massig Zeit! Bis dahin war er längst über alle Berge.
    Jetzt kam ein stattlicher Mann mit Backenbart anmarschiert, in Begleitung einer alten Frau, die zu kurze Hosen und einen grell gestreiften Schal trug. Der Mann hielt der Frau die Tür auf, und beide verschwanden im Eingang der Bank. Verdammt! Er hätte schneller sein müssen! Mit den beiden befanden sich jetzt vier Kunden in der LCL. Dazu noch die Kassiererin und zwei Leute an den Serviceschaltern. Er entspannte sich. Trotzdem, alles war immer noch im grünen Bereich. Überhaupt – früher hätte er die Bank gar nicht betreten dürfen. Erst jetzt, kurz bevor sie wegen der Mittagspause schlossen, war der richtige Moment.
    Rasch überquerte er die Straße.

4. KAPITEL
    Céline Charpentier legte den Kugelschreiber auf die Tischplatte und hielt einen Moment inne. Mit der Hand strich sie kurz über ihren Bauch, dem die Schwangerschaft noch nicht anzusehen war. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie freute sich auf das Baby. Es war ein Wunschkind, und es würde den Namen seines Vaters
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