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DER KUSS DES MAGIERS

DER KUSS DES MAGIERS

Titel: DER KUSS DES MAGIERS
Autoren: S. Landauer
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Licht, das wie zäher Honig von den Bäumen tropft, sodass alles doppelte Schatten bekommt.
    Endlich bin ich auf der kleinen Lichtung mit dem großen Felsblock, den wir immer als Ausguck nehmen, wenn wir die Piraten beobachten. Der Fels ist aber jetzt ganz glänzend und dunkel, und dann sehe ich meinen Papa und den Mann. Er und mein Papa streiten sich. Mein Papa blutet, und ich schreie los und will auf die Lichtung laufen …
    … und da hält mich jemand fest.
    „Schsch, du bist in Sicherheit. Dein Papa kommt gleich wieder. Komm mit zurück zum Boot, wir warten dort auf ihn.“
    Eine tiefe Stimme, klingend, mit einem warmen Unterton, die mir sofort Vertrauen einflößt. Ich schaue hoch und sehe einen Jungen mit goldenen Augen und einem Gesicht wie der Engel auf der Postkarte, die Mom an die Pinnwand in der Küche gehängt hat.
    Ich lege meine Hand in seine, gehe mit ihm zurück zum Boot und warte dort mit ihm. Und wirklich kommt mein Papa irgendwann aus dem Wald. Er sieht blass aus und sagt kein Wort. Ich denke erst, er ist böse auf mich, aber dann streicht er mir übers Haar und gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
    Ich drehe mich um, weil ich ihm den Jungen zeigen will, der mit mir gewartet hat, aber da ist niemand.
    Und dann vergesse ich den Jungen, denn Papa ist ja wieder da und alles ist gut und ich freue mich so auf meine Geburtstagsparty.
    Am nächsten Tag, als ich aufstehe, ist mein Papa fort. Ich sehe ihn nie wieder.
    „Du …“, flüsterte Sina und konnte plötzlich nicht mehr richtig stehen, obwohl sie die Pumps schon ausgezogen hatte. „Aber … du hast dich fast nicht verändert. Seit damals, meine ich.“
    LeNormand legte ihr wie selbstverständlich einen Arm um die Schultern, und wie selbstverständlich schmiegte sie sich an ihn.
    „Du schon“, sagte er lächelnd. „Ich wusste ja nicht, wie du jetzt aussiehst … aber egal. Endlich habe ich dich gefunden.“
    Hatte er das nicht vorher schon gesagt? Oder hatte sie das nur geträumt?
    Sina kam die ganze Situation so unwirklich vor. War das vielleicht alles nur ein Traum, von dem Moment an, in dem sie heute aus der Eisdiele nach Hause gekommen war?
    Aber eigentlich waren die Träume, in denen er vorkam, nie so real. In denen sah sie immer nur sein Gesicht vor sich – so wie sie es damals als Vierjährige auf der Insel im Park gesehen hatte – und hatte das Gefühl, sie müsste irgendetwas Wichtiges tun, an das sie sich nicht erinnern konnte. Dann wachte sie immer mit einer leichten Panik auf. Sie fühlte sich, als hätte sie jemanden im Stich gelassen. Aber wie sollte sie tun, was er wollte, wenn sie gar nicht wusste, um was es ging?
    „Wir sind damals aus Boston weggezogen, und Mom hat ihren Mädchennamen wieder angenommen“, murmelte sie abwesend. „Wir wussten ja nicht wohin, nachdem Dad weg war. Grandma – Moms Mutter – in Florida hat uns erst mal aufgenommen, und dann hat Mom den Job an der Westküste bekommen und …“
    Als sie den Kopf hob, wusste sie nicht mehr, was sie hatte sagen wollen. LeNormand schaute sie aus seinen goldenen Augen an, als wäre sie das Kostbarste, was er je gesehen hatte.
    Auf einmal war die unglaubliche Anziehung wieder da, die Sina schon vorher auf der Bühne gespürt hatte, und sie vergaß alles andere – die beunruhigende Erinnerung, die sie so unerwartet überwältigt hatte, die unwirkliche Umgebung, die Tatsache, dass sie barfuß im Moos stand, wo eigentlich gar kein Moos sein konnte.
    Dort, wo LeNormand sie berührte, kribbelte ihre Haut. Sina spürte die Wärme seiner Hand durch die dünne kühle Seide hindurch.
    „Was immer auch geschieht, du darfst keine Angst haben, hörst du?“, murmelte er. „Es ist alles gut. Es ist alles gut.“
    „Ich habe doch gar keine Angst“, flüsterte sie.
    Und es stimmte. Noch nie, seit ihr Dad gegangen war, hatte sie sich so sicher, so gut aufgehoben gefühlt. Nicht einmal bei Lugo …
    Der Gedanke an ihren Freund, der irgendwo in einem Theater im Publikum saß, schrak sie ein wenig aus ihrer Verzauberung. Sina drehte den Kopf in die Richtung, wo der Spiegelrahmen hätte sein müssen.
    „Können die uns sehen?“, fragte sie.
    „Nein.“
    LeNormand hob die Hand, legte einen Finger an ihr Kinn und drehte ihr Gesicht sanft, sodass sie ihn wieder ansah.
    „Das ist wichtig“, wiederholte er eindringlich. „Es ist alles gut, egal, was geschieht.“
    Überwältigt schaute Sina in seine goldenen Augen. Da war diese Ruhe, diese Sicherheit, die sie auch damals auf
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