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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition)
Autoren: Manuela Reizel
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hat Probleme mit dem Berührtwerden, aber thematisiert hat er es bisher noch nicht.“
    „Wahnhafte Episoden?“
    „Ich bin mir noch nicht hundertprozentig sicher, ich vermute es aber in Bezug auf mindestens eine Figur.“
    Karin Kutscher runzelte die Stirn. „Spannende Geschichte. Ich denke immer noch, dass du mit deiner Eingangsdiagnose richtig liegst, aber ich will mehr hören. Für heute muss ich allerdings Schluss machen, meine Anorexie-Gruppe wartet. Nächste Woche, selbe Zeit?“
    Elvert nickte und drückte ihr die Hand. Er musste dabei wohl ähnlich deprimiert ausgesehen haben, wie er sich fühlte, denn sie fügte, was eigentlich nicht ihre Art war, noch hinzu: „Nimm dir die Sache von vorhin nicht so sehr zu Herzen. Du weißt selbst am besten, dass man so etwas bei Borderlinern nie völlig ausschließen kann … Oh, fast hätte ich’s vergessen: Die Klinikleitung plant ein Symposium zum Thema ‚Die Genese des Borderline-Syndroms im Spiegel von Kernberg, Mahler, Searles und Wolberg‘. Ich habe dich als Gastredner vorgeschlagen – ich hoffe, du blamierst mich nicht!“
    „Danke, Karin.“
    Nachdenklich, doch deutlich weniger deprimiert, verließ Elvert die Klinik.
    „Mami, du hast doch gesagt, Thomas kommt heute zu uns. Warum muss ich jetzt schon ins Bett, wenn er doch noch gar nicht da ist?“
    „Weil für kleine Mädchen, die noch in den Kindergarten gehen, jetzt Schlafenszeit ist. Thomas kommt später, du siehst ihn morgen noch lange genug.“
    „Bleibt er jetzt für immer bei uns?“
    „Ich weiß es nicht, mein Schatz.“
    „Ich kann mich gar nicht mehr so richtig an ihn erinnern.“
    „Das macht nichts. Wenn du dir brav die Zähne geputzt hast, lese ich dir noch was vor.“
    Aufatmend schloss Judith Günther eine Stunde später die Tür zum Kinderzimmer. Sie ging in die Küche, räumte den Tisch ab und begann das Geschirr zu spülen, das sich seit Tagen auf beiden Seiten des Beckens stapelte. Unruhig blickte sie von Zeit zu Zeit zur Uhr, ging ins Wohnzimmer, stellte den Fernseher leise, schlich schließlich auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer, wo ihre Tochter bereits fest eingeschlafen war. Sie ging ins Schlafzimmer, schüttelte das frisch bezogene Bettzeug auf, kehrte ins Wohnzimmer zurück und schenkte sich ein kleines Glas Cognac ein, bevor sie sich erschöpft auf die Couch fallen ließ. Ein kleiner Schluck, dagegen war nichts zu sagen, den brauchte sie jetzt.
    Gedankenverloren ließ sie ihre Hand über den weichen, blumengemusterten Bezug des Sofas gleiten und musste plötzlich lächeln. Eine Schönheit war das Sofa nicht gerade, war es nie gewesen und auch nicht neu, als Thomas es angeschleppt hatte. Aber in einem guten Zustand. So, wie viele der Dinge, die er damals herbeigeschafft hatte. Dinge, die sie sich von dem knapp bemessenen Hartz IV-Satz niemals hätte leisten können, seiner Meinung nach jedoch unbedingt brauchte. Sie hatte ihn noch nicht sehr lange gekannt, doch sie hatte nicht nachgefragt. Für sich selbst brauchte sie nicht viel, sie hatte niemals um etwas gebeten, aber sie war froh, wenn es Nina an nichts fehlte. Und er hatte in der kurzen Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, immer dafür gesorgt, dass es ihr an nichts fehlte. Judith besaß zwar eine recht bescheidene Schulbildung, war jedoch alles andere als dumm, und sie hatte geahnt, dass es nicht ewig gut gehen würde. Aber sie hatte geschwiegen und die schöne Zeit genossen. Thomas hatte sie und das Kind immer gut behandelt, das war ihr wichtiger gewesen als der Altersunterschied und seine Drogengeschichten. Vielleicht musste sie sich Bequemlichkeit vorwerfen lassen, doch sie hatte ihm immer vertraut. Aber drei Jahre waren eine lange Zeit, und Nina war nun kein Baby mehr. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie bei allem, was nun kommen würde, zuerst an ihr Kind denken musste.
    Gerade, als sie sich einen weiteren winzigen Cognac eingeschenkt hatte, schrillte die Türklingel. Judith eilte zum Garderobenspiegel, zupfte hektisch ihre Frisur und Kleidung zurecht und öffnete. Die Begrüßung blieb ihr jedoch im Hals stecken, als sie unsanft zurückgestoßen wurde und die Wohnungstür aufflog.
    Es waren zwei, und sie war sicher, dass sie sie noch nie gesehen hatte. Sie waren jung, hatten kurz rasierte Haare, trugen dunkle Anzüge und Sonnenbrillen. Und sie sprachen einander mit Namen an, die sich tief in Judiths Gedächtnis eingruben: Mr. Yes und Mr. No.
    Offensichtlich hatten sie ihren Spaß.
    Es war ein kurzer
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